Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
Ernstes, nur Schnittwunden und blaue Flecke, aber sie saßen den Großteil der Nacht im Krankenhaus und bei der Polizei von York.«
»Na, dann können wir sie wenigstens von der Liste streichen«, sagte Gervaise.
»Da ist noch eine Kleinigkeit«, sagte Winsome. »Als ich eben mit Jill Sutherland sprach, sagte sie mir, sie würde oft durch das Labyrinth gehen, wenn sie im Fountain arbeitet. Es wäre eine Abkürzung zum Parkplatz.«
»Sie meinen also, der Mörder wartete eigentlich auf Jill, und dann lief ihm Hayley in die Hände?«
»Nein, nicht unbedingt, Ma'am«, erwiderte Winsome. »Nur dass er gewusst haben könnte, dass die Chance relativ groß ist, dort ein Opfer zu finden.«
»Was ich eben schon meinte«, schaltete Templeton sich wieder ein, »der Mörder hat da auf der Lauer gelegen, im Labyrinth. Winsome hat recht. Auf den Standort kommt es an, nicht auf das Opfer. Vielleicht war er schon öfter da, hatte die Gassen ausgekundschaftet, aber es war nichts passiert, und er wartete einfach. Er wusste, dass er irgendwann Erfolg haben würde, dass irgendein bedauerliches Mädchen allein hineingehen würde -zum Beispiel Jill Sutherland - und er zuschlagen könnte. Solche Menschen haben eine unendliche Geduld. Und schließlich hatte er ja Glück.«
»Ich glaube, DS Templeton könnte recht haben«, sagte Dr. Wallace. Sie trug saloppe Zivilkleidung. Zuerst hatte Banks sie gar nicht erkannt, die schlanke Gestalt, das aus der Stirn gekämmte und hinten zusammengefasste Haar, der schwarze Rollkragenpullover und die Jeans, dazu Nike-Turnschuhe. Er hatte das Gefühl, dass die Medizinerin durchaus attraktiv sein konnte, wenn sie wollte, dass es sie aber nicht interessierte. »Meiner Erfahrung nach muss ich sagen«, fuhr Dr. Wallace fort, »wann immer ich solche Fälle gesehen habe oder Fallgeschichten gelesen habe, in denen es um solche Verletzungen geht, wie sie Hayley Daniels zugefügt wurden, waren sie so gut wie immer Teil einer Serie. Ich habe mir die Tatortfotos angesehen«, erklärte sie, »und die Leiche machte definitiv den Eindruck, als sei sie mit Absicht so hingelegt worden. Das Mädchen kann diese Lage niemals selber eingenommen haben, als er mit ihr fertig war. Dann hätte sie offener dagelegen, entblößter, zurückgelassen wie eine weggeworfene Puppe. Aber so war es nicht. Der Mörder legte sie sorgfältig auf die Seite, verbarg, was er angerichtet hatte, welches Trauma er ausgelöst hatte. Es sollte so aussehen, als schlafe sie lediglich. Er säuberte sogar ihren Körper. Ersttäter machen sich meistens nicht solche Mühe.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte Banks, »aber ich habe auch Fälle gesehen, wo jemand eine ihm nahestehende Person tötete und die Wunden aus Scham auf diese Weise versteckte oder sogar eine Jacke oder ein Laken über die Leiche breitete. Außer den Gewohnheitstätern weiß niemand, wie er sich nach der Tat fühlen wird, und diese Art der Reaktion, dieses Entsetzen über das eigene Verbrechen, ist ziemlich weit verbreitet.«
»Gut«, sagte Dr. Wallace, »ich beuge mich natürlich Ihrem Expertenwissen, aber ich wiederhole noch mal: Das könnte nur der Anfang sein. Es gibt Hinweise, dass der Mörder erneut zuschlagen wird. Und das Labyrinth ist der perfekte Ort dafür.«
»In Ordnung«, sagte Gervaise. »Verstanden, DS Templeton und Dr. Wallace. Aber wie eben schon gesagt, in der momentanen Phase haben wir kaum genug Leute, um das Labyrinth am Freitag- und Samstagabend mit Beamten zu durchsetzen. Außerdem«, fuhr sie fort, »wenn Sie tatsächlich recht haben und es wirklich ein potentieller Serienmörder ist, glauben Sie dann nicht, dass er so schlau wäre, beim nächsten Mal einen anderen Tatort zu wählen?«
»Nicht unbedingt«, entgegnete Dr. Wallace. »Ich bin keine Psychologin, aber ich weiß einiges über kriminelles Verhalten, und die Leute entwickeln eine Beziehung zu gewissen Orten. Das Labyrinth ist auf jeden Fall groß und verwinkelt genug, um für so einen Charakter interessant zu sein. Vielleicht hat er sogar das Gefühl, es sei ein Ausdruck seines inneren Zustands, seiner inneren Qualen. Viele Schatten, Ecken und Winkel, in die man sich verdrücken und aus denen man jemanden überfallen kann.«
»Und viele Wege hinein und heraus, ohne auf den Überwachungskameras aufzutauchen«, sagte Templeton. »Der Doc hat recht«, sagte er und erntete ein Stirnrunzeln von Dr. Wallace, das er aber nicht bemerkte.
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