Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
das Bild, hielt es sich direkt vor die Nase, drehte es ins spärliche Licht.
»Ich darf von mir behaupten«, erklärte er, »dass ich ein Gesicht niemals vergesse. Aber im Fall dieses Burschen wäre ich zu einer Ausnahme bereit.« Und bedachte sein eigenes Witzchen mit einem schiefen Lächeln. »Andererseits, was die Lady angeht...«
»Alfie!« Ama Petrie stand am oberen Absatz des Niedergangs, die Arme fröstelnd vor der Brust verschränkt. »Komm schon, wir wollen gehen.«
»Super Idee, Ama.« Alfie blinzelte so langsam, dass Rebus dachte, er sei im Stehen eingeschlafen.
»Was die Blondine angeht...«, hakte Rebus nach.
Ama war jetzt bei ihnen, zog Alfie am Ärmel. Alfie tätschelte Rebus den Arm. »Wir sehen uns bei Nicky, alter Knabe.«
»Komm schon, Alfie.« Ama gab ihm ein Küsschen auf die Wange, lotste ihn zum Niedergang. Ein schneller Blick zurück zu Rebus. Mit einer... wütenden, erleichterten Miene? Einer Mischung von beidem.
Als sie unter Deck verschwunden waren, ging Rebus von Bord.
»Sie packen ihre Sachen zusammen«, sagte er zu dem Aufpasser.
»Glückwunsch.«
»Ich hab was bei Ihnen gut«, sagte Rebus und wartete, bis der Aufpasser genickt hatte. »Zum Ausgleich möchte ich, dass Sie mir erzählen, was Archie Frost mit Billy Preston zu tun hat.«
»Er arbeitet für ihn, genauso wie ich.«
»Aber er führt doch für Charmer Mackenzie den Gaitano's.« Der Aufpasser nickte. »Stimmt.«
»Keine Interessenskonflikte?«
»Sollte es welche geben?«
Rebus' Augen wurden schmal. »Der Kahn hier gehört Mackenzie?« Der Aufpasser leckte sich die Lippen. »Mit. Die andere Hälfte gehört Mr. Preston.«
Charmer Mackenzie hielt einen Teil vom Clipper. Und ihm gehörte der Gaitano's, Dämon war im Gaitano's gewesen, und man hatte ihn zuletzt in der Nähe des Clippers gesehen. Allmählich wurde Rebus neugierig...
»Damit sind wir quitt«, meinte der Aufpasser, während die Partygänger eine Polonaise in Richtung Gangway veranstalteten.
Er fuhr nach Hause, konnte aber nicht einschlafen. Die Decke, unter der Darren Rough geschlafen hatte, lag noch immer zusammengefaltet auf dem Sofa. Er brachte es nicht über sich, sie wegzuräumen. Stattdessen setzte er sich in seinen Sessel und wartete darauf, dass die Gespenster kämen. Vielleicht würde Darren Rough mit dabei sein, vielleicht hatte er aber auch andere Seelen zu quälen. Aber es kamen keine Geister. Rebus döste ein, schreckte wieder aus dem Schlaf. Entschied, dass er draußen besser aufgehoben wäre. Er ging quer durch die Meadows, am Infirmary vorbei. Das Krankenhaus würde demnächst umziehen, raus aus der Stadt, südwärts, nach Little France. Es war davon die Rede, das alte Infirmary zu einem Luxusapartmenthaus umzubauen, vielleicht auch einem Hotel. Beste, zentrale Lage, aber wer würde schon eine Wohnung haben wollen, die früher eine Krankenhausstation gewesen war?
Beim Denkmal von Greyfriars Bobby, dem berühmten Skyeterrier, der nach dem Tod seines Herrchens (1858) vierzehn Jahre lang bei dessen Grab auf dem Friedhof Greyfriars Church blieb, legte er eine kurze Rast ein. Wenn man sich's recht überlegte, war Bobby einfach ein Hund gewesen, der nicht wusste, wo er sonst hinsollte, der nichts Besseres zu tun hatte. Rebus streckte die Hand aus und tätschelte der Statue den Kopf.
»Platz!«, sagte er, während er sich zur George IV. Bridge wandte. Ein paar leere Taxis verlangsamten ihr Tempo, als sie ihn passierten, aber er winkte sie weiter, stieg die Playfair Steps hinunter zur National Gallery und zur Royal Academy. Er kam an ein paar Leuten vorbei, die unter freiem Himmel schliefen, sah, wie die Silhouette des Schlosses allmählich Gestalt annahm, als die Nacht in den Morgen überging. Er dachte an seine Großväter, deren Namen irgendwo im Gedächtnisbuch des Schlosses begraben lagen. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, in welchen Regimentern sie gedient hatten. Beide waren im Ersten Weltkrieg gestorben, lange bevor Rebus' Eltern sich kennen gelernt hatten.
Die Princes Street hatte ihr gewohnt zusammengeschustertes Aussehen. Die Bürgersteige wirkten breit, wenn sonst niemand unterwegs war. Er bog beim Burger King um die Ecke und ging ins Penny Black, das schon um fünf öffnete. Rebus war nicht mal der erste Gast. Er bestellte einen Whisky, gab ordentlich Wasser dazu.
»Mann, Sie ersäufen ihn ja«, meinte einer der Leute am Tresen. Rebus lächelte, erklärte dem Mann nicht, dass das Wasser sein Sicherungsseil war. Auf der
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