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Inspektor Jury lichtet den Nebel

Inspektor Jury lichtet den Nebel

Titel: Inspektor Jury lichtet den Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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darüber nachzudenken. Für mich ist der Fall abgeschlossen.»
    «Gehen Sie bitte davon aus, daß ich ihn gerade wieder aufgenommen habe.»
     

D RITTER T EIL
    D IE S TRANDPROMENADE
     

6
    A NGELA T HORNES E LTERN hatten ihr untersagt, nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen zu sein. Sie mußte immer zur Teestunde zu Hause sein, durfte nicht am Cobb Spazierengehen und bei auflaufender Flut nicht am Kiesstrand spielen. Im Moment tat sie alles, was man ihr verboten hatte, und nur ihr Hund Mickey leistete ihr Gesellschaft.
    Es war um fünf Uhr dunkel geworden, und zwei Stunden später war sie immer noch draußen. Eine Zeitlang war sie ziellos durch die gepflegten Gartenanlagen oberhalb der Strandpromenade gebummelt. Dann war sie eine halbe Stunde die kleinen Treppen entlang der Promenade rauf- und runtergelaufen, immer im Wettlauf mit der Flut in Richtung Strandmauer.
    Und jetzt setzte sie sich über ein weiteres Verbot hinweg: Sie ging den dunklen Arm des Cobb entlang, der den kleinen Fischerbooten, die draußen auf dem Wasser im Winde knarrten, einen sicheren Hafen bot.
    Mickey, der Terrier, lief schnaufend hinter ihr her. Er war zu fett, weil Angela ihn dauernd mit Bissen von ihrem Teller fütterte, eklige Sachen wie Steckrübengemüse oder Blutpudding oder Rochen, bei dem sie immer an die gestutzten Flügel eines großen Vogels denken mußte. Eigentlich sollte Mickey nur Trockenfutter bekommen. Er war alt, und ihre Eltern befürchteten, er würde an Herzverfettung eingehen.
    Sie hatte ihre Eltern satt und haßte die Schule. Es gab eigentlich kaum etwas, das sie nicht haßte. Vielleicht lag das daran, daß sie häßlich war, einen langen Zopf hatte und eine Hornbrille tragen mußte. Niemand in der Schule hatte so dicke Gläser wie sie. Ihre Klassenkameradinnen machten sich andauernd über sie lustig.
    Weit draußen auf dem Cobb drehte sich Angela um und betrachtete die Lichter der Strandpromenade von Lyme Regis. So aus der Ferne und vor allem am Abend hatte sie Lyme noch nie gesehen. Das geradezu unwirkliche Licht gefiel ihr. Die kleine Stadt schien über der Schwärze des Meeres zu schweben.
    Wie schön wäre es, einfach hineinzufallen und zu ertrinken. Denn auch von Lyme hatte Angela mehr als genug.
    Mickey trappelte auf den Steinen hinter ihr her, als Angela weiterging. Mickey mochte das Meer. Bei Ebbe riß er sich gern von ihr los, ließ sich wie ein weißes Stück Stoff vom Wind treiben und jagte die Schaumkronen, als wäre er zum erstenmal von der Leine los. Es machte ihm einen Heidenspaß.
     
     
    S IE LEGTE IHR C APE AB und deckte das kleine Mädchen damit zu. Lieber frieren als das blutgetränkte Kleidchen der Toten auf den schwarzen Felsen sehen müssen. Der kleine Hund kam angerannt, beschnüffelte erst das Cape, dann Molly. Er schien vollkommen durcheinander zu sein.
    Molly Singer stand auf den hochaufgetürmten Felsen am Ende des Cobb und fühlte sich der Realität entrückt, kam sich vor wie eine Gestalt aus einem Traum, die nach unten blickte, wie eine Unbeteiligte, wie das spähende Auge irgendeines Gottes.
    Meer und Himmel gingen nahtlos ineinander über, der Horizont war nicht auszumachen. Der Mond schien aus Kalk zu sein, der Himmel war sternklar. Weit in der Ferne funkelten die Lichter der Strandpromenade.
    Der Hund rannte immer noch hin und her. Es mußte etwas geschehen. Vor ihrem inneren Auge sah Molly das kleine Mädchen mit seinem Hund auf dem Cobb entlangspazieren, zwei dunkle Silhouetten vor der noch dunkleren Strandmauer.
    Der Hund mußte zurück ans Ufer. Sie fror, aber wenigstens mußte sie jetzt nicht mehr die Leiche sehen, und das war ihr wichtig.
    Den zappelnden Hund fest an sich gedrückt, kletterte sie über die Felsen zur Strandmauer zurück. Am Hundehalsband hing ein Anhänger mit Adresse.
    Sie fand Cobble Cottage und setzte den Hund hinter dem Gartenzaun ab.
    Molly stand auf der verlassenen Strandpromenade vor dem Cottage, das sie gemietet hatte. Ans Geländer gelehnt, das die Flut mit Girlanden aus Tang geschmückt hatte, vergaß sie die Kälte. Die hölzernen Buhnen am Kiesstrand hielten den Sand fest. Könnte man doch im Kopf auch solche Schutzwälle errichten!
    Sie ließ ihren Blick den Cobb entlang und zu den Felsen hinüberschweifen, von denen sie gekommen war.
    Eine Zeile von Jane Austen schoß ihr durch den Kopf: Die jungen Leute brannten darauf, Lyme kennenzulernen.

7
    E S MOCHTE BEREITS elf Uhr gewesen sein, doch der Wirt vom «Weißen Löwen» hatte seine eigene

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