Inspektor Jury lichtet den Nebel
Diese Bemerkung war vermutlich inspiriert von dem Artikel über die Entlassung eines Sträflings aus Dartmoor, den die Zeitung nur als ‹Axtmörder› titulierte.
«Melrose! Du willst mir nur meinen Drink vermiesen.»
«Ich will damit folgendes sagen: Wetten, daß dich kein amerikanischer Metzger mit blutverschmierter Schürze und dem Messer in der Hand begrüßt? Immer, wenn ich Mr. Greeley sehe, muß ich an den Film Blutgericht in Texas denken, oder wie auch immer dieser unmögliche Film hieß. Und es gibt noch eine weitere Kategorie – die Amateurverbrecher. Amerika, das ist AI Capone und Scarface, der Pate und Richard Nixon. Hier in England gibt es nur Brixton und die IRA.»
«Ich muß schon sagen, alter Junge», entgegnete Trueblood, «finden Sie, daß das ein Kompliment für die USA ist?»
«Soll es ja gar nicht sein. Ich meine ja nur, wenn Amerikaner zuschlagen – zumindest die Profigangster –, dann klappt es auch. Da wird nicht geschlampt wie bei uns.»
«Bei dir ist eine Schraube locker, Melrose. Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich hätte gern noch einen Sherry, wenn du so freundlich sein würdest.» Agatha pflegte an sich zu reißen, was sie nur bekommen konnte. in Melrose insistierte: «Wißt ihr noch, dieser John McVicar, der aus Durham ausgebrochen ist? Das ist ein Zuchthaus wie Dartmoor. Vor ihm hatte das noch keiner geschafft.»
«Irren sie sich da nicht, alter Junge?» Trueblood stand auf und wollte an die Bar gehen, Mrs. Withersby wurde putzmunter. «Zwei schwere Jungs haben es bisher fertiggebracht. Einer brach sich den Knöchel, als sie über die Mauer oder was auch immer kletterten, weswegen das Treffen mit den Fluchthelfern nicht klappte. Schwuppdiwupp springt John in den Wear oder den Tyne – oder was auch immer – und schwimmt haste-was-kannste. Aber jetzt sitzt er in der Patsche, denn wie soll er nun Kontakt zu seinen Freunden von draußen aufnehmen? Raten Sie mal, was er tut?»
Agatha seufzte, denn Melrose hinderte Trueblood daran, zur Theke zu gehen. «Keinen blassen Dunst», sagte Trueblood.
«Er marschiert in eine öffentliche Telefonzelle. Ich meine, ist doch undenkbar, daß Al Capone oder Scarface in eine Telefonzelle gegangen wären und nach einer Zehn-Pence-Münze gesucht hätten –»
Scroggs unterbrach sie und rief von der Theke her: «Telefon für Sie, M’lord.» Es wollte nicht in Dick Scroggs’ dicken Schädel, daß Melrose Plant seine Titel abgelegt hatte.
«Ein Anruf?» fragte Agatha. «Hier? Wer um alles ruft dich in der ‹Hammerschmiede› an? Merkwürdig.» Sie entwickelte ihre Theorien, während Melrose auf das Telefon hinter der Theke zusteuerte.
Es war Ruthven, Melroses Butler. Die Botschaft, die Ruthven übermittelte, war so mysteriös, daß Melrose ihm gar nicht glauben wollte: Superintendent Jury wollte, daß Lord Ardry mit seinem Silver Ghost nach Dartmoor fuhr.
«Das war ihm sehr wichtig, Mylord.» Superintendent Jury hatte klare Anweisungen bezüglich dessen gegeben, was Lord Ardy zu tun habe.
«Ja, geht in Ordnung», sagte Melrose. «Ja, ja, ja, Ruthven. Danke.»
Sein Freund Jury hatte ihn im Laufe der Jahre um so manchen Gefallen gebeten. Aber warum brauchte er jetzt einen Grafen mit einem Silver Ghost?
S ECHSTER T EIL
D AS E NDE
DES T UNNELS
16
A N DIESEM M ORGEN blieb Jessica auf der Schwelle des Salons stehen und weigerte sich, auch nur einen Fuß ins Zimmer zu setzen, als könne sie so die Person weghexen, die sie jetzt kennenlernen sollte. Nein, sie blickte nicht auf, sie kam nicht näher, obwohl ihr Onkel immer ungeduldiger wurde. Sie wußte ja, was sie sehen würde.
Eine Freundliche Fanny.
Und Onkel Rob sagte in diesem einschmeichelnden Ton, den er immer anschlug, wenn er böse auf sie war, gleichzeitig aber ihre Nöte verstand (was oft passierte): «Miss Millar kommt noch auf die Idee, daß du dich mit ihr nur quer durchs ganze Zimmer unterhalten willst, Jess.»
Jess erdolchte ihren Onkel mit Blicken, vermied aber, Miss Millar anzusehen.
Jetzt sagte Miss Millars Stimme – honigsüß natürlich: «Ich weiß noch, wie wir mal eine neue Lehrerin bekamen. Ich weiß noch, wie schrecklich schüchtern ich war.»
Schüchtern? Jessica Mary Allan-Ashcroft und schüchtern? Noch nie im Leben – zumindest in dem Leben, das sie nun mit Onkel Robert führte – hatte jemand Jessie für schüchtern gehalten. Sie errötete vor Zorn, was sie nur noch zorniger machte, denn daß sie rot wurde, konnte man als Beweis für
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