Inspektor Jury lichtet den Nebel
Bemerkung hoffentlich nicht – aber Sie sind so gar keine typische Hausdame.»
Sie lachte. «Falls Sie damit meinen, daß ich Bettwäsche und Handtücher wechseln und ein Schlüsselbund am Gürtel tragen sollte – nein, dann nicht. Diese Stellung ist eine einträgliche Pfründe für mich. Ich kümmere mich vorwiegend um die Pferde – Billy ist ein bißchen faul – und tippe gelegentlich einen Brief für Robert, und ich arrangiere Blumen.» Sie lächelte. «Barbara – Lady Ashcroft – und ich sind Cousinen ersten Grades gewesen, auch wenn sie in Waterford geboren wurde. County Waterford. Ein typisch irisches Mädchen, ja, das war sie. Aber wir waren dicke Freundinnen. Barbara hat eine gute Partie abbekommen – doch das stand ihr wohl auch zu, nicht wahr …?»
Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Oder mit jemandem, der ihr sehr nahestand.
«Die verstorbene Lady Ashcroft war Irin? Dann stimmen die dramatischen Geschichten, die ihre Tochter erzählt, also doch?»
«Natürlich nicht. Barbara hat keineswegs gebrochene Herzen hinterlassen wie Blütenblätter im Staub.» Sie überlegte. «Zumindest nicht wissentlich.»
Was sie damit wohl meinte? Von der gegenüberliegenden Wand blickte ihn Barbara Ashcroft an. Ein Lächeln so undurchschaubar wie das der Mona Lisa. «Wenn das Porträt ihr nicht schmeichelt–»
«Schmeichelt –?» Victoria Gray drehte sich um. «O nein, ganz und gar nicht. Eher wird es ihr nicht gerecht. Und Jessica wird eines Tages genauso schön werden. Man kann es sehen, wenn sie einmal nicht ihren verdreckten Overall anhat und nicht ihre Werkzeuge herumschleppt.»
«Sie ist eine tüchtige Mechanikerin.»
«Jessie? Die kann doch eine Batterie nicht von einem Auspufftopf unterscheiden. Wetten, sie hat Ihnen gesagt, es liegt am Vergaser?»
«Stimmt.»
«Ihre Lieblingsvokabel.»
Melrose lachte. «Na ja, sie braucht wohl irgendwie eine Beschäftigungstherapie, meinen Sie nicht?»
«An Beschäftigung mangelt es ihr nicht, das können Sie mir glauben – allerdings weiß ich nicht, was die mit Therapie zu tun hat. Sie muß ihren geliebten Onkel vom Heiraten abhalten.» Sie biß von ihrem Toast, kaute lange und sagte dann: «Zum Glück treten sich die begehrenswerten Frauen in Dartmoor nicht gerade gegenseitig auf die Füße.»
Ihr nachdenklicher Blick schien auszudrücken, daß nicht nur Jess, sondern auch sie über diese Tatsache froh war.
«Warum hat sie wohl sonst einen so großen Verschleiß an Gouvernanten?»
«Davon wußte ich nicht.» Er ließ sich von Victoria noch eine Tasse Kaffee einschenken. «Sagen Sie, warum sind die Ashcrofts nicht auf das Naheliegende gekommen und haben Jessica Ihrer Obhut anvertraut? Sie sagen, Ihr Job ist eine Pfründe; es wäre doch gelacht, wenn Sie das nicht schaffen würden.»
Victoria lächelte. «Weil Jessie dann wirklich nichts mehr zu lachen hätte. Haben Sie schon mal ein derart verwöhntes Kind gesehen? Ich habe mich schon lange gefragt, wann Robert endlich zur Vernunft kommt und die Erzieherin selbst auswählt, wie jetzt Sara Millar.»
Es machte nicht den Eindruck, als wäre sie mit Roberts Wahl zufrieden. Eher wirkte sie sehr traurig. Melrose las es ihr vom Gesicht ab: Sie wünschte sich der Gefühle Roberts so sicher sein zu können wie ihres Postens.
E R HATTE V ICTORIA um Schreibpapier gebeten und saß jetzt im Salon und betrachtete noch einmal das Porträt des etwas furchterregenden Earl of Curlew. Er schrieb nur wenige Zeilen auf das dicke cremefarbene Papier mit dem Wappen der Ashcrofts, nahm sich ein neues Blatt und schrieb das gleiche noch einmal. Dann adressierte er beide an Jury – einen Brief zu ihm nach Hause nach Islington, den anderen an das Polizeipräsidium von Devon und Cornwall. Wenn er sie heute aufgab, würde Jury sie bestimmt morgen haben, egal wo er gerade steckte.
Melrose stellte sich unter das Porträt und befreite James Ashcroft mittels seines hochgehaltenen Zeigefingers und zusammengekniffener Augen für einen Augenblick von seinem üppigen Schnurrbart. Es bestand wirklich eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern. So wie zwischen Curlew und Clerihew.
20
G OTT SEI D ANK , sie waren nicht im Kabriolett losgefahren. Der Nebel sah aus, als würde er sich zumindest am Morgen nicht mehr lichten, und so trogen die Entfernungen, und die riesenhaften Tors wirkten näher, als sie in Wirklichkeit waren. Die Moorponys duckten sich hinter der windabgewandten Seite der Mauern, ihr Instinkt sagte
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