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Inspektor Jury sucht den Kennington-Smaragd

Inspektor Jury sucht den Kennington-Smaragd

Titel: Inspektor Jury sucht den Kennington-Smaragd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Krankheit und Tod nichts als gewöhnliche Bedürfnisse, die befriedigt werden mußten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich die üblichen Geschäfte – Waschsalons, Kneipen, Boutiquen, Restaurants.
    Die Schwester, die Jury schließlich zu Katie O’Briens Zimmer führte, war außergewöhnlich hübsch, und daran änderte auch die Uniform nichts – das gestreifte Kleid, die schwarzen Strümpfe, das weiße Häubchen und die gestärkte Schürze. Sie stieß die Tür zu dem Zimmer auf und sagte mit einer Stimme, die ebenfalls frisch gestärkt zu sein schien: «Nicht zu lange, Superintendent.» Mit raschelnder Uniform entfernte sie sich.
     
    Auf diesen Anblick war er nicht gefaßt gewesen – eine Haut wie Porzellan und dichtes, schwarzes Haar, das so lange und sorgfältig gebürstet worden war, daß es wie gemalt auf dem Kissen lag. Die zarten, schlanken Hände waren gefaltet und ruhten auf dem über die Brust hochgezogenen Laken. Auf der einen Seite ihres Betts stand ein Sauerstoffzelt, das ihn an eine Glasglocke erinnerte, gegen die im Herbst welkes Laub, im Frühjahr Blütenblätter und im Winter Schnee geweht werden würden. Auf ihrem Gesicht lag der Abglanz eines Lächelns.
    «Hallo, Katie», sagte Jury.
    Neben dem Nachttischchen lehnte der schwarze Geigenkasten an der Wand. Seltsam, daß ihre Mutter ihn nicht mitgenommen hatte. Jury ging zum Fenster und sah auf die allmählich dunkel werdende Fulham Road hinab. In der Nähe lag eine Kneipe, deren Fenster geheimnisvoll dunkelrot schimmerten. Direkt gegenüber befand sich ein Gemüseladen; die gestreiften Markisen waren schon für die Nacht hochgezogen. Und neben dem Gemüsehändler ein Waschsalon. Erinnerte er sich wirklich noch an diese Straße, wie sie in den Kriegsjahren ausgesehen hatte, als er ein kleiner Junge gewesen war, oder bildete er sich das nur ein?
    ‹Dort, wo der Lebensmittelladen ist›, sagte er mehr zu sich selbst und der Fensterscheibe als zu Katie, ‹gab es früher Süßigkeiten. Es war Krieg, und ich konnte meistens nur durchs Fenster gucken. Das war lange vor deiner Zeit. Ich erinnere mich, daß eine unserer Nachbarinnen in ihrem Keller lauter Konservendosen gestapelt hatte – mit Suppen, goldgelbem Sirup und Tee. Es war wie ein Laden bei ihr, sogar Süßigkeiten gab es. Ich hab sie immer besucht, und sie hat mir die ganzen Sachen gezeigt – all die gefüllten Regale …›
    Vor dem Waschsalon schaukelte ein kleines Mädchen ihren Puppenwagen. Wahrscheinlich wartete es auf seine Mutter. Es nahm die Puppe aus dem Wagen und hielt sie in die Luft. Jury konnte die Umrisse der Frauen erkennen, die im Waschsalon saßen und zuschauten, wie ihre Wäsche herumgewirbelt wurde. Doch dann wurde ihm die Sicht durch ein Laken oder eine Decke versperrt, die eine Frau wie einen Vorhang gegen die Scheibe hielt.
    Jury sah sich damals als kleiner Junge in seinem Zimmer stehen und das Gesicht gegen die Scheibe pressen. Die Verdunklungsvorhänge hätten eigentlich vorgezogen werden müssen, da aber kein Licht in seinem Zimmer brannte, hielt er es für sicher, wenn er hinausschaute. Außer einem großen, blassen Mond war nichts zu sehen; kein Geräusch, kein Warnsignal war zu hören, bis sich dann plötzlich Wände und Fenster in nichts auflösten. Er erinnerte sich, daß er durch die Luft gewirbelt worden war, als hätte er versucht, zur Decke hochzuspringen. Unbegreiflicherweise war er mit ein paar Schrammen davongekommen. Seine Mutter jedoch nicht.
    Eine Frau kam aus der Wäscherei, schnappte sich den Kinderwagen und schob ihn an den mit einer Plane bedeckten Gemüsekisten vorbei. Saubere Wäsche, Lebensmittel: das Leben ging weiter in der Fulham Road. In dem burgunderroten Licht, das aus der Kneipe «Saracen’s Head» fiel, schien ein junger Mann ungeduldig auf jemanden zu warten. Er hatte eine Gitarre bei sich und blickte die Straße hinauf und hinunter.
    Nicht einmal die Luft bewegte sich über Katie O’Briens Bett. Wie eine aus Marmor gehauene Skulptur lag sie da. Auf dem Nachttischchen stand der Kassettenrecorder, den ihre Mutter ihr mitgebracht hatte. Er fragte sich, ob die Schwestern sich überhaupt die Mühe machten, etwas für sie zu spielen. Jury drückte auf die Taste, und die scheppernden Töne einer alten Aufnahme von «Rosen aus der Picardie» erfüllten das Zimmer.
    Dunkelheit senkte sich auf die Fulham Road. Das kleine Mädchen und ihr Puppenwagen waren verschwunden.
    «Auf Wieder sehen, Katie.» Er ging aus dem

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