Intrige (German Edition)
einen Freispruch bei der Wiederaufnahme seines Verfahrens erwirken werde, ich werde auch dafür sorgen, dass Dreyfus umfassende Gerechtigkeit und vollständige Rehabilitierung widerfährt.« 1 0. 1 5 Uhr. Le Matin vermeldet weitere Stellungnahmen von Auguste Scheurer-Kestner: »Welche Maßnahmen werde ich ergreifen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen? Und wann werde ich diese ergreifen? Das bleibt vorerst mein Geheimnis. Ich habe die Unterlagen, die sich in meinem Besitz befinden, an niemand weitergegeben, auch nicht, wie das angedeutet worden ist, an den Präsidenten der Republik.«
Ein einziger Absatz, das ist alles. Sorgte am vergangenen Abend für eine Sensation – es ist, als erreichten mich die schwachen Schockwellen einer gewaltigen, aber weit entfernten Explosion. Die Droschke klappert durch die Avenue de France, und ich schaue auf die Fassaden der Amtsgebäude und Bürgerhäuser, die weiß und ockerfarben in der Nachmittagssonne leuchten, und wundere mich, dass sie so normal aussehen. Ich kann nicht begreifen, was passiert ist. Ich fühle mich wie in einem Traum, abgeschnitten von der alltäglichen Welt da draußen.
Im Hauptquartier der Armee werde ich von Leclercs Adju tanten abgeholt. Ich folge ihm durch einen breiten Korridor. In einem der Büros beugt sich ein Unteroffizier über seine Schreib maschine und tippt unerträglich langsam einen Buchstaben nach dem anderen. Auch Leclerc scheint nichts von dem zu wissen, was in Paris passiert ist. Offensichtlich liest er La Dépêche nicht – und wenn doch, dann hat er die Geschichte nicht mit mir in Verbindung gebracht. Warum sollte er auch?
Aufgeräumt begrüßt er mich. Ich übergebe ihm meinen Bericht über den Mord an Morès. Mit hochgezogenen Augen brauen schaut er ihn schnell durch. »Keine Angst, Picquart«, sagt er und gibt mir den Bericht zurück. »Ich sorge schon dafür, dass Sie eine anständige Beerdigung bekommen. Bevor Sie fahren, dürfen Sie sich noch die Totenlieder aussuchen.«
»Danke, Herr General. Ich weiß das zu schätzen.«
Er geht zu der Wandkarte, auf der das Gebiet des französischen Protektorats eingezeichnet ist. »Das ist ein Höllenritt, das muss ich schon sagen. Haben die in Paris keine Karten mehr?« Er fährt mit dem Finger die Strecke entlang, die von Tunis im Norden nach Süden führt, vorbei an Sousse, Sfax und Gabès und dann weiter durch die unermessliche Wüste in Richtung Tripolis, wo die Karte keine Straßen und Ansiedlungen mehr verzeichnet. »Das müssen so achthundert Kilometer sein. Und am Ende erwartet Sie eine Region, in der es von feindseligen Beduinen nur so wimmelt.«
»Klingt einigermaßen beängstigend. Darf ich fragen, wem ich diesen Befehl zu verdanken habe?«
»Ja, das darf ich wohl verraten. Er kommt von General Billot persönlich.« Mein verbitterter Gesichtsausdruck steigert Leclercs gute Laune nur noch. »Vielleicht haben Sie ja doch mit seiner Frau geschlafen!« Als ich darauf immer noch nicht lächele, wird er ernst. »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Lieber. Das kann nur ein Irrtum sein. Ich habe ihm schon telegrafiert, dass das genau der Ort ist, wo man vor knapp einem Jahr Morès überfallen hat.«
»Hat er schon geantwortet?«
»Noch nicht.«
»Ich glaube nicht, dass das ein Irrtum ist, Herr General.« Er schaut mich an und neigt verblüfft den Kopf zur Seite, während ich fortfahre. »In Paris war ich Chef der Geheimdienstabteilung im Generalstab. In dieser Funktion habe ich einen Verräter in der Armee enttarnt, der in Wahrheit die Verbrechen begangen hat, für die Hauptmann Dreyfus verurteilt worden ist.«
»Großer Gott!«
»Ich habe meine Vorgesetzten, darunter General Billot, davon in Kenntnis gesetzt und dazu geraten, den wahren Spion zu verhaften. Sie haben abgelehnt.«
»Obwohl Sie Beweise hatten?«
» Sie hätten zugeben müssen, dass Dreyfus unschuldig ist. Und das hätte – nun ja, sagen wir, es hätte gewisse Unregelmäßigkeiten in der Art und Weise, wie sie seinen Fall gehandhabt haben, ans Tageslicht befördert.«
Leclerc hebt einen Finger. »Moment, ich bin ein bisschen langsam – zu viel Sonne über die Jahre. Noch einmal, damit ich das auch richtig verstehe. Sie behaupten, der Minister schickt Sie nur deshalb auf diese riskante Mission, weil er hofft, Sie auf diese Weise loswerden zu können?«
Als Antwort gebe ich ihm die Dépêche tunisienne. Leclerc liest lange. »Das waren Sie, nehme ich an, der Scheurer-Kestner die Informationen gegeben hat«, sagt
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