Invaders: Roman (German Edition)
das Ganze irgendwie romantisch – Geoff konnte sich ohne Weiteres vorstellen, wie junge Liebespaare, die keine Probleme mit Kitsch hatten, am Ufer des Sees saßen und verzückt in den Sonnenaufgang starrten, bis sie dann merkten, wie säuisch kalt es um sechs Uhr dreißig morgens war.
Der einzige Schönheitsfehler, den dieser prächtige Anblick hatte, war ein kleiner weißer Punkt, der über den Himmel glitt. Geoff sah genauer hin. Anscheinend war es eine Möwe, die hoch über dem See kreiste.
»Mensch, das ging aber schnell!«, rief eine Stimme. »Du bist schon wieder da?«
Geoff blickte sich um. Von wo war denn diese Stimme gekommen? Außer ihm saß niemand im Boot, und soweit er feststellen konnte, stand auch niemand am Ufer des Sees.
»Hier oben!«, meldete sich die Stimme wieder.
Geoff schaute hoch. Die Möwe schien immer tiefer zu gehen.
»Genau!«, rief sie. »Ich bin’s!«
Na großartig. Erst ein sprechender Fisch, jetzt eine sprechende Möwe. All diese sprechenden Tiere, die seine Phantasie bevölkerten, gingen Geoff so langsam auf den Geist. Er musste wirklich aufhören, so viele Zeichentrickfilme zu sehen.
Die Möwe fegte über Geoffs Kopf hinweg, setzte zur Landung an und ließ sich auf dem Rand des Bootes nieder. Mit dem linken Fuß schien sie ein Stück Papier festzuhalten.
»Erinnerst du dich noch an mich?«, fragte die Möwe, während sie die Flügel anlegte.
»Äh … nein«, erwiderte Geoff. »Tut mir leid.«
»Macht nichts. Hab ich auch nicht erwartet. Diese Dreckskerle haben dafür gesorgt, dass du alles vergisst, nicht wahr?«
»Hä?«
»Der Varsarianer, der dich überfallen hat – der hat dafür gesorgt, dass du alles vergisst. Erics Ermordung, und dann, dass er dir erzählt hat, wie man den Algorithmus in Ordnung bringen kann, einfach alles …«
»Eric hat mir erzählt, wie man den Algorithmus in Ordnung bringen kann?«
»Ja.«
»Und dieser … Varsarianer hat dafür gesorgt, dass ich es vergesse?«
»So ist es.«
»Aber … wie denn?«
»Mit Sicherheit weiß ich das auch nicht. Nach dem Überfall musst du dich in einem halb wachen Zustand befunden haben, sodass alles, was du hier erlebt hast, eine Mischung aus Realem und Imaginärem war. Das würde auch erklären, warum sie in der Lage waren, im Traum mit dir zu sprechen, dich zu hypnotisieren, damit du alles vergisst, und warum die Verletzung an deiner Hand sowohl real als auch imaginär war.«
Geoff fand, dass er ein ausgesprochener Glückspilz war. Wahrscheinlich gab es nicht viele Möwen auf der Welt, die die Fähigkeit hatten, alles, was ihm widerfahren war, so eloquent zu analysieren. Nach seiner Erfahrung hatten die meisten Möwen lediglich die Fähigkeit, kleine Fische zu verschlingen, auf Autos zu kacken und – wenn sie sich was ganz Besonderes gönnen wollten – auf einem Bein zu stehen.
»Wer bist du?«, fragte Geoff. »Bist du real?«
»Ob ich real bin?«
»Ja. Bist du jemand, der in der realen Welt mit mir spricht?«
»Was? Wie?«, entgegnete die Möwe. »So was Absurdes hab ich ja noch nie gehört!«
»Wer bist du denn dann?«
»Ich bin eine Möwe.«
»Aber du kannst sprechen!«
»Ja, ich bin eine sprechende Möwe. Fein observiert.«
»Du bist also eine sprechende Möwe«, gab Geoff zurück, den das immer mehr verwirrte. »Ist das nicht noch absurder, als wenn du jemand wärst, der in der realen Welt mit mir spricht?«
»Hey! Ich bin doch keine gewöhnliche Möwe! Ich bin eine Silbermöwe! Wir Silbermöwen sind ziemlich schlau, das kannst du mir glauben!«
Daran zweifelte Geoff keine Sekunde. Wahrscheinlich war diese sprechende Silbermöwe derart schlau, dass sie ihn mit verbundenen Augen beim Schach schlagen konnte.
»Das Drollige daran ist«, fuhr die Möwe fort, »dass ich in Wirklichkeit ein Teil deines Unterbewusstseins bin. Ich bin du.«
»Was soll das denn heißen? Du bist ich? Du bist eine Möwe!«
»Ich möchte dich mal was fragen«, sagte die Möwe, während sie über den Rand des Boots auf Geoff zukam. »Wie hast du dich gefühlt, als dir diese Leute aus der Zukunft mitgeteilt haben, dass du völlig unbedeutend bist?«
Geoff lehnte sich gegen die Wand des Boots und holte tief Luft.
»Nicht sonderlich gut«, gab er zu, während er zum Himmel hochblickte. »Sogar ziemlich beschissen, ehrlich gesagt.«
»Nicht sonderlich gut?«, wiederholte die Möwe. »Du warst stinkwütend. In deinem tiefsten Innern warst du absolut sauer, weil man dich jahrelang konditioniert hatte, ein
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