Inversionen
Gesicht sah grau aus. »Seid Ihr unverletzt? Ich dachte, ich… Vorsehung, ich glaubte, ich würde…«
RuLeuin kam angerannt und wäre beinahe über DeWars am Boden liegende Armbrust gestolpert. »Bruder!« Er breitete die Arme aus und hätte seinen Bruder beinahe umgeworfen, als er ihn umarmte und UrLeyns Hand von DeWar wegzog.
Am Hang über ihnen näherten sich die Leute des Hauptteils der Jagdgesellschaft.
DeWar warf einen Blick zurück auf den Orth. Er sah sehr tot aus.
»Und wer hat zuerst geschossen?« fragte die Dame Perrund leise und ohne sich zu rühren. Ihr Kopf war geneigt, gesenkt über das Spielbrett von ›Geheimes Verlies‹, während sie ihren nächsten Zug überlegte. Sie saßen im Besuchssalon des Harems, um den neunten Glockenschlag. An diesem Abend hatte eine besonders lautstarke Nachjagd-Feier stattgefunden, obwohl sich UrLeyn frühzeitig zurückgezogen hatte.
»Es war YetAmidous«, sagte DeWar, auch nicht lauter. »Von ihm stammte der Schuß, der die Mütze des Protektors von dessen Kopf gerissen hat. Die Mütze wurde stromabwärts gefunden. Der Bolzen steckte in einem Baumstamm am Fluß. Einen Fingerbreit tiefer…«
»In der Tat. Und dann war es RuLeuins Schuß, der Euch knapp verfehlte.«
»Und auch UrLeyn knapp verfehlte, obwohl ich glaube, es war seine Taille, die er um eine Handbreit oder so verfehlte, nicht seinen Kopf um einen Fingerbreit.«
»Könnte es möglich sein, daß beide Bolzen dem Orth gegolten hatten?«
»…Ja. Keiner der beiden Männer ist als guter Schütze bekannt. Doch wenn YetAmidous wirklich auf UrLeyns Kopf gezielt hat, dann könnte ich mir vorstellen, daß die meisten, die sich für Fachleute in derlei Angelegenheiten halten, seinen Schuß als überraschend genau bezeichnen würden, unter den gegebenen Umständen. Und YetAmidous machte einen wahrhaft erschütterten Eindruck, weil er den Protektor beinahe erwischt hätte. Und RuLeuin ist sein Bruder, bei aller Vorsehung.« DeWar seufzte tief, dann gähnte er und rieb sich die Augen. »Und YetAmidous ist nicht nur ein schlechter Schütze, er ist auch einfach nicht der Typ eines Meuchelmörders.«
»Hmm«, machte die Dame Perrund mit einer vielsagenden Betonung.
»Wie?« Als er das sagte, wurde DeWar bewußt, wie gut er diese Frau inzwischen kannte, wie leicht er ihre Regungen nachempfinden konnte. Allein die Art, wie sie einen einzelnen Ton von sich gab, verriet ihm eine ganze Menge.
»Ich habe eine Freundin, die ziemlich viel Zeit in YetAmidous’ Gesellschaft verbringt«, sagte die Dame Perrund leise. »Sie hat mir erzählt, daß er am Kartenspiel um Geld großen Gefallen findet. Es ergötzt ihn sogar noch mehr, wenn er den Anschein erweckt, als ob er sich mit den Feinheiten der Spiele nicht auskennen würde und ein schlechter Spieler wäre. Er tut so, als habe er die Regeln vergessen, fragt nach, was er an einem bestimmten Punkt tun muß, erkundigt sich nach der Bedeutung von Ausdrücken, derer sich die anderen Spieler bedienen, und so weiter. Oft verliert er absichtlich eine Reihe von Spielen mit kleineren Einsätzen nacheinander. In Wirklichkeit wartet er nur, bis ein beträchtlich höherer Betrag auf dem Spiel steht, woraufhin er beinahe ausnahmslos gewinnt, sehr zu seiner eigenen gespielten Überraschung. Sie hat das viele Male beobachtet. Seine Freunde durchschauen ihn inzwischen und sind gleichzeitig erheitert und auf der Hut, doch so mancher junge, affektierte Adelige, der sich in Gegenwart eines törichten Einfaltspinsels, der reif zum Ausnehmen ist, wähnt, konnte von Glück reden, wenn er beim Verlassen von YetAmidous’ Haus noch eine einzige Münze sein eigen nennen durfte.«
DeWar merkte, daß er sich auf die Lippe biß, während er auf das Spielbrett hinabsah. »Dann ist der Mann also ein geschickter Täuscher und alles andere als ein Tölpel. Das ist besorgniserregend.« Er sah die Dame Perrund an, doch diese wich seinem Blick aus. Er ertappte sich dabei, wie er die üppige blonde Pracht ihres hochgesteckten Haares betrachtete und seinen Glanz und die wundervolle Farbe bewunderte. »Eure Freundin hat nicht vielleicht noch weitere Beobachtungen oder Ansichten über diesen Herrn preisgegeben, oder?«
Immer noch ohne aufzublicken, holte die Dame Perrund tief Luft. Er betrachtete ihre Schultern in dem roten Kleid, ließ den Blick zu der Wölbung des Stoffes über ihren Brüsten hinabgleiten. »Einmal oder vielleicht zweimal«, sagte sie, »als YetAmidous sehr betrunken war, glaubte sie,
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