Irrfahrt
bezahlen. Da niemand etwas Eßbares bei sich hatte, waren sie nach drei, vier Flaschen angetrieselt. Koppelmann, der wenig trank, konnte noch geraden Kurs halten und stand für die restliche Fahrt am Ruder.
Der Bootsmaat lebte seit 1939 in Gotenhafen; er hatte die Schule mit eingerichtet. «Drei Tage lang haben wir Akten verbrannt, um die Schränke leer zu kriegen. Dann griffen wir uns zwanzig Weiber und ließen Reinschiff machen. Ihr Spunde habt das natürlich bisher selbst gemacht. Aber nicht bei uns! ... Du bist hier im Großdeutschen Reich! Bei uns herrscht porzadek. Heißt Ordnung, verstanden?»
Der Maat war schon so voll, daß er den einen Matrosen für eine polnische Reinigungskraft hielt. «Du Luder, dich scheiß ich auch noch an! Drei von deiner Sorte haben sie abgeholt. Anruf bei der Gestapo genügt... » Er lachte und verschluckte sich dabei. «Hart Steuerbord! Wir segeln zur Westerplatte !»
Koppelmann besaß noch wenig Erfahrung im Umgang mit Betrunkenen und wunderte sich über die Sprunghaftigkeit.
«Haben wir uns angeguckt, gleich im Oktober neununddreißig! Mensch, da hat aber die reingehauen, mit Kaliber achtundzwanzig! Solche Koffer! Von den paar Bunkern blieb nichts übrig...» Lautes Rülpsen unterbrach den Redefluß. Der Maat brauchte eine Weile, bis er den Faden wiederfand. «Beinahe schiefgegangen damals. Unser Kahn lag in Danzig, über die Toppen geflaggt. Adolf wollte schon am sechsundzwanzigsten August marschieren, Schiff sollte am nächsten Tag wieder abdampfen. Große Scheiße! Hat man den Staatsbesuch einfach um ein paar lumpige Tage verlängert. Prima Idee!»
Der Maat köpfte die nächste Flasche. «Breitseite auf die Insel Hela!» brüllte er. «Da sitzen noch Polacken, leisten Widerstand. Einheizen, diesen Brüdern ...» Der Betrunkene steigerte sich in die Rolle des Kommandanten der «Schleswig-Holstein» hinein und nahm die Feldstellungen der polnischen Truppen unter schwerstes Feuer. «Ausräuchern das Gesindel, alle ausräuchern. Gefangene werden nicht gemacht...» Er sank in sich zusammen. Die leere Bierflasche rollte über die Planken des Bootes.
Helmut Koppelmann war angewidert. Er schwor sich, in Zukunft dem Maat aus dem Wege zu gehen.
Die Freizeit nutzte er, um seine Eintragungen zu vervollständigen. Schon vor der Einberufung hatte er ein Buch angelegt, das alle wichtigen Ereignisse des Krieges zur See enthielt. «Navigare necesse est, vivere non est necesse», stand auf der ersten Seite, kunstvoll in Frakturschrift gemalt. Seefahrt ist notwendig, Leben jedoch nicht.
Zeitungsausschnitte der letzten Monate waren zu sortieren. Die Auswertung ergab ein lückenloses Bild: Am 11.Januar 1942, einen Monat nach der Kriegserklärung an die USA, hatte der Tonnagekrieg vor den Küsten Amerikas und im Karibischen Raum begonnen. Ohne nennenswerte Gegenwehr operierten deutsche Unterseeboote auf einer der befahrensten Schiffsrouten der Welt. Fast täglich fielen größere Schiffe den Angriffen zum Opfer, meistens Tanker, die Erdöl aus Venezuela nach den großen Häfen an der Küste der USA und Kanadas brachten. Zahllose Sondermeldungen befanden sich in dem Zeitungsstapel. Analysierte man die Daten genauer, waren gewisse Pausen erkennbar: Die Boote wurden in Wellen eingesetzt. Fünf oder sechs Gruppeneinsatze ließen sich ablesen. Offenbar fehlte es an Booten, um ständig so weit von den Stützpunkten entfernt operieren zu können. Eben, deswegen sind wir ja hier! Höchste Zeit, daß mehr Boote an die Front kommen!
Zweieinhalb Millionen Tonnen Schiffsraum waren im letzten Halbjahr versenkt worden. Und natürlich nahm Helmut Koppelmann an, daß nun eine weitere Steigerung folgen mußte. Die Zahl entscheidet, erklärten die Ausbilder. Na bitte!
Von den künftigen U-Boot-Fahrern kam nur ein geringer Prozentsatz direkt vom Infanteriedienst. Die meisten hatten irgendeine Flakschule, ArtiIlerieschule, Signalschule, Torpedoschule, Maschinenschule oder Kochschule beziehungsweise einen Artillerieleitlehrgang, Tauchlehrgang, Sanitätslehrgang, Torpedolehrgang oder Funklehrgang absolviert. Die roten Abzeichen ihrer Spezialausbildung leuchteten auf den Jackenärmeln.
Wieder andere hatte man von Vorpostenbooten, Minensuchern, U-Boot-Jagdflottillen, aufliegenden Handelsschiffen, Bordflakeinheiten oder Dickschiffen ausgekämmt, um den riesigen Personalbedarf der schnell wachsenden Unterseebootflotte zu decken.
Vom ersten Tage an war das Bestreben erkennbar, in kurzer
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