Irrliebe
gerade dies nicht zu wollen. Er blieb verhalten, als Marie ihn um ein Gespräch bat. Der Umstand, dass Franziska ihm gegenüber Marie als ihre Freundin bezeichnet hatte, ohne sie jemals kennengelernt zu haben, verstörte und konfrontierte ihn mit einem ihm unbekannt gebliebenen Teil Franziskas, von dessen Existenz er seit ihrem rätselhaften Tod zu ahnen begann und gegen den er sich gleichermaßen zu wehren versuchte. Daniel war von hünenhafter Statur mit einem gepflegten, feinen, fast feminin wirkenden Gesicht, das ihm eine geheimnisvolle Scheu verlieh. Marie hatte sich bei dem Telefonat mit Daniel beschrieben und angekündigt, dass sie direkt an einer Standuhr neben der Commerzbank am Hansaplatz auf ihn warten wolle. Er erschien pünktlich, folgte Marie in das traditionsreiche Café, das mit seinen dunklen stilvollen Stühlen, den kleinen runden filigranen Tischen und den Kronleuchtern an den Decken den Charme vergangener Zeiten bewahrte. Sie bestellten beide einen Milchkaffee. Marie suchte nach Worten, wie sie das Gespräch mit Daniel beginnen konnte. Sie hatte sich zuvor Worte überlegt, die ihr jetzt unpassend erschienen. Daniel wirkte verletzt und unsicher, lauernd und zugleich in gewisser Weise duldsam, bereit, sich Maries Fragen zu stellen und zugleich seine Liebe zu Franziska, ihre gemeinsame Zeit und seine ungetrübte Erinnerung an sie zu verteidigen.
Daniel schlürfte abwartend seinen Kaffee.
»Franziska und ich waren nicht im wirklichen Sinne Freundinnen«, begann Marie schonend ihre einstudierten Worte. »Man benutzt den Begriff im Hinblick auf Mitschüler viel leichter als sonst«, erklärte sie. »Nach der Schulzeit gelten alle, mit denen man zusammen diese Jahre verbracht hat, irgendwie als Schulfreunde. Ich habe mit Franziska in der Oberstufe lediglich gemeinsam einen Kurs gehabt. Danach haben wir uns bis zum Klassentreffen nicht mehr wieder gesehen.«
»Ich weiß«, sagte Daniel schroff. »Aber sie fühlte sich dir stets nahe. Sie hat dich bewundert. Du hast es einfacher gehabt als sie. Franziska musste immer kämpfen. Aber vielleicht hat sie es sich manchmal auch unnötig schwer gemacht. Sie konnte schnell die Geduld verlieren. Sie war schnell unzufrieden. Das war ihr Problem.« Er stieß seine Analyse in harten knappen Sätzen aus. »Man muss im Leben auch einmal zufrieden sein. Man kann nicht alles haben.«
Marie spürte das Vakuum zwischen Zufriedenheit und Glück, das sich zwischen Franziska und Daniel aufgetan haben mochte. Und sie ahnte die Bedeutung der Offenbarung des Geheimnisses, das Franziska und Pierre auslebten, bevor es zu dem unerklärlichen Bruch kam.
»Es gibt sicher Menschen, die sie besser gekannt haben als ich«, sagte Marie schließlich.
»Meinst du Frauke?«, fragte Daniel.
»War sie ihre Freundin?«
»Ich sehe, du hast sie nicht richtig gekannt«, sagte Daniel. Er schien eigentümlich befreit. Marie wagte nicht, weiter in Daniels zerbrochener Welt zu wühlen.
»Ich verstehe das alles nicht«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme, als sie sich verabschiedeten.
Sie versprachen, in Kontakt zu bleiben und wussten zugleich, dass sie es nicht auf Dauer bleiben würden. Daniel witterte, dass Franziska hinter seinem Rücken ein anderes Leben geführt hatte, aber er wollte es nicht wissen. Das Unbegreifliche ihres Todes hing mit dem Unbegreiflichen ihres Lebens zusammen, das keine Zufriedenheit kennen wollte.
Marie notierte sich den Namen Frauke.
8
Marie bestieg am Freitagnachmittag in Köln den Zug nach Paris, ohne dass Stephan und sie bis dahin die Fragen klären konnten, die sich nach dem Lesen der von Dominique überreichten Briefe gestellt hatten. Der Betreiber des kleinen Teeladens an der Saarlandstraße konnte sich nicht erinnern, ob Franziska Bellgardt und Pierre Brossard jemals sein Geschäft aufgesucht hatten. Marie hatte ihm das Foto gezeigt, das sie mit Franziska auf der Abschlussfeier zeigte.
»Sie sieht heute natürlich älter aus«, hatte sie erklärt. »Das Foto hier ist mehr als neun Jahre alt.«
»Vielleicht ja, vielleicht nein«, hatte der Mann im Teeladen erklärt. »Ich weiß es nicht.«
Auch von Pierre Brossard schien es keine aktuellen Fotos zu geben. Er galt nach Dominiques Worten als fotoscheu, was sie auch dem Staatsanwalt gesagt hatte, als sie ihm für Fahndungszwecke nur ein etwa vier Jahre altes Passfoto von Pierre übergeben konnte.
Marie setzte auf den unverkennbaren französischen Akzent, den Pierre nach Dominiques Worten
Weitere Kostenlose Bücher