Irrliebe
hat.«
»Wir werden ihn fragen«, bekräftigte Stephan und sah wieder auf den Brief. »Es ist auch merkwürdig, dass der gesamte Brief auf dem Computer geschrieben wurde. Er hat nicht einmal persönlich unterschrieben.«
»Nach Dominiques Worten ist das nicht ungewöhnlich für Pierre. Er soll fast nur den Computer für all seine Briefe benutzt haben. Es gibt kaum Handschriftliches von ihm«, erklärte Marie.
»Wie es aussieht, haben die beiden ihr kurzes Verhältnis nie bei ihr oder bei ihm zu Hause gelebt. Sie waren stets unterwegs.«
»Und wir haben Hinweise auf Orte, die sie aufgesucht haben«, setzte Marie fort. »Sie waren zum Beispiel in dem Teeladen an der Saarlandstraße, den ich auch ganz gut kenne.«
»Und irgendwo an der Mosel«, ergänzte Stephan.
»Worüber vielleicht die Freundin etwas weiß, die bei Bedarf Franziskas Alibi sein sollte. Daniel könnte sie kennen. – Merkwürdigerweise scheint es keine Handygespräche zwischen Franziska und Pierre gegeben zu haben«, sinnierte Marie. »Ylberi sagte dies jedenfalls. Man hat das Handy von Franziska untersucht.«
Stephan sah auf das Datum des Briefs.
»Der Brief datiert vom 15. Oktober«, sagte er. »Unterstellt, der Brief ist an diesem Tag auch abgesandt worden, wäre er am nächsten Tag bei Kult-Mund angekommen. Hätte man ihn sofort weitergeleitet, wäre er am 17. Oktober bei uns eingetroffen. – Marie, erinnere dich: Wir haben am 17. Oktober nur einen einzigen Brief bekommen, den wir geöffnet hatten, als wir von Franziskas Tod erfahren haben. Das war wenige Tage vor ihrem Tod, verfasst von einem Verehrer, dessen erste Zuschrift Franziska offensichtlich nicht beantwortet hatte. Aber dieser Brief«, er betrachtete das Schriftstück, das er in den Händen hielt, »ist bei uns nie angekommen, Marie! Also kann ihn Franziska nicht erhalten haben.« Er stutzte. »Wie hat Dominique diesen Brief vom 15. Oktober überhaupt gefunden?«
»Sie sagt, der Brief sei als bloßer Ausdruck in Pierres Unterlagen gewesen, die sie in der Dortmunder Wohnung durchsuchte, nachdem sie diesen weiteren – an sie adressierten – Brief von ihm gefunden hatte.« Marie deutete auf das zweite Dokument, das Stephan noch nicht gelesen hatte und nun in die Hand nahm. Der Brief trug das Datum vom 24. Oktober:
Hallo Dominique,
ich erspare mir, viele Worte über unsere Ehe zu verlieren, die wir nie hätten eingehen dürfen. Es war damals ein wie aus einer Sektlaune geborener Entschluss, ein gemeinsames Leben zu gründen, dessen wir beide gar nicht fähig sind. Wir beide sind Egoisten, selbstverliebt und geradezu triebhaft darauf bedacht, sich selbst verwirklicht zu sehen. Andere Menschen dienen uns nur als Spiegel, in dem wir uns genüsslich selbst betrachten und uns an uns selbst weiden können. Untereinander sind wir nicht anders miteinander umgegangen. Wir haben uns wechselseitig immer alles gegeben, und Du weißt, wie ich es meine: Wir haben uns so sehr alles gegeben, dass wir voneinander die Nase voll haben mussten. Dir ergeht es wie mir, und wir haben es versäumt, diese Ehe, die nie eine war, anständig zu beenden. Warum Du diesen Schritt nicht getan hast, ist mir klar. Ich hingegen hätte ihn tun sollen, aber ich war zu feige, als noch Zeit dazu war. Jetzt ist alles zu spät. Ich habe mich verstrickt, und Du könntest triumphieren. Aber es ist weitaus Schlimmeres passiert. Ich habe einem Menschen Unverzeihliches angetan. Mich ekelt vor mir selbst, und ich weiß, dass ich nie mehr mit mir ins Reine kommen werde. Die Dunkelheit, die mich anzieht, hat sich meiner bemächtigt, und ich werde so nicht mehr weiterleben können. Suche nicht nach mir. Es würde vergeblich sein.
Pierre
Im Unterschied zu dem anderen Brief war dieser handschriftlich unterzeichnet.
»Es bleiben Fragen offen«, stellte Stephan fest: »Es gab eine Affäre zwischen Franziska und Pierre, die nach ungestümem Beginn jäh von Pierre beendet wurde, ohne dass der dubiose Ausdruck seines vielleicht bei ihr nie angekommenen Briefs wirklich begreifbar macht, warum Pierre mit Franziska gebrochen hat. Warum zerbrach die Beziehung? Und warum kommt es zum Abschiedsbrief Pierres an Dominique, der die Ankündigung eines Freitodes sein könnte?«
7
Marie traf sich am Nachmittag des nächsten Tages mit Franziskas Freund Daniel im Café Strickmann in der Stadtmitte. Sie hatte darauf gehofft, mit Daniel in der Wohnung sprechen zu können, in der er mit Franziska gelebt hatte, doch Daniel schien
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