Irrliebe
trotz seiner langjährigen Aufenthalte in Deutschland nie abgelegt hatte. Doch der Inhaber des Teeladens verneinte lächelnd. Er konnte sich nicht sicher an einen Kunden erinnern, auf den Maries Beschreibung zutraf. Und auch an keinen mit einem französischen Akzent, der nach einem Samowar gefragt hatte.
Vor ihrer Abfahrt hatte Marie noch Alexander Hilbig zu erreichen versucht. Doch der hatte, wie stets nach Redaktionsschluss für die in Druck gehende neue monatliche Ausgabe von Kult-Mund, einige Tage dienstfrei und würde erst wieder am morgigen Samstag in seinem Büro sein.
Die Hoffnung, den vollständigen Namen von Franziskas Freundin Frauke zu ermitteln, schlug fehl.
Stephan gelang es lediglich, über Hubert Löffke etwas über den Inhalt des Ehevertrages zu erfahren, den Dominique Rühl und Pierre Brossard in der Kanzlei Dr. Hübenthal einst beurkunden ließen. Die Recherche ergab, dass beide – wie von Löffke gesagt – lediglich vereinbart hatten, ihre Ehe und alle daraus folgenden Rechtsfragen dem deutschen Recht zu unterstellen. Eine Woche nach Beurkundung des Vertrages hatten sie geheiratet.
Marie kam gegen 19.30 Uhr in Paris an. Sie bahnte sich einen Weg durch das abendliche Gewühl in dem alten Kopfbahnhof, orientierte sich in den stickigen, niedrigen und verwinkelten unterirdischen Gängen der Metro, studierte in dem schaukelnden Zug das innen aufgedruckte Linienband und stieg an der Station Buttes Chaumont aus.
Von hier folgte sie Dominiques Beschreibung, verließ die Metrostation über eine schmale einsame Treppe und gelangte auf eine wenig attraktive Vorortstraße mit unansehnlichen, abgewirtschafteten Lokalen. Dominiques Wohnung lag etwa 800 Meter entfernt. Marie fröstelte in dem beginnenden Regen und zog ihren Rollkoffer an kleinen gedrungenen Häusern vorbei, denen gänzlich der Charme und jene Herrschaftlichkeit fehlten, die man gemeinhin mit Paris verband. Das Haus, in dem Dominique wohnte, stand seitlich am Ende einer Sackgasse, die ein kleines Neubaugebiet erschloss, dessen kastenförmige schlichte Häuser sich dicht aneinander drängten. Marie hatte von Dominique per SMS den Code für das Tor erhalten, durch das sie nun in einen schmucklosen Innenhof gelangte, der als Stellplatz für zahlreiche Autos diente und zugleich das Bindeglied zwischen den an der Straße stehenden Wohnhäusern und das im Hinterhof angesiedelte Kleingewerbe bildete. Sie tastete sich über den dunklen Hof, zwängte sich mit ihrem Koffer durch nebeneinander geparkte Autos. Der Regen trieb in dichten feinen Schleiern durch die Nacht und klopfte sanft auf das Blech der Autos und die gläsernen Vordächer der Gewerbehallen.
Die Aufzugtür stand weit offen. Aus der Kabine fiel kaltweißes Neonlicht in den Hof und spiegelte sich verzerrt in den Scheiben der Autos. Niemand, der außer Marie kam oder ging. Sie betrat wie mechanisch die innen leuchtend rot gestrichene Kabine und drückte den Knopf der dritten Etage. Die Falttür schlug mit gepresstem Zischen zu, dann trug der Aufzug Marie surrend nach oben und entließ sie in gähnende Dunkelheit. Marie stand auf einer Veranda des obersten Geschosses, die wie ein Balkon das gesamte Stockwerk umschloss. Es war windig. Sie lief die nassen Holzplanken entlang und hielt ihre Hand schützend vor ihr Gesicht; dann stand sie vor der Wohnung der Eheleute Rühl-Brossard.
Marie klingelte. Die Tür wurde elektrisch von innen geöffnet. Marie trat in einen dunklen, länglichen Flur, in dessen Verlängerung sich das bis in das Spitzdach reichende offene Wohnzimmer mit integrierter Küche anschloss. Dominique saß vor dem Kopfende eines schlichten, dunkel gebeizten, langen Esstisches. Irgendwo im Dachfirst brannte Licht und erleuchtete schwach den Raum. Dominiques Gesicht schimmerte grünlich im Widerschein des Displays ihres silbernen Laptops, der aufgeklappt vor ihr stand. In den Gläsern ihrer Brille spiegelten sich Spielkarten. Sie spielte Patience an ihrem Computer.
Marie ließ ihren Rollkoffer im Flur zurück und ging ins Wohnzimmer. Dominique sah auf, blieb sitzen, reichte Marie die Hand und griff mit der anderen neben den Laptop, zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie in den Mundwinkel.
»Da bist du ja endlich. Es ist spät.« Sie lächelte flüchtig. »Willst du etwas essen? Ich kann dir nur Brot und Käse anbieten.«
Marie nahm dankend an.
»Setz dich!« Dominique zog an ihrer Zigarette, klappte den Laptop zu, schaltete über eine Fernbedienung das
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