Irrliebe
Kellerraum durch dicke Mauern und Stahltüren abgeschirmt ist und Hilfeschreie nicht nach außen dringen können. Der Raum sollte mit vier anderen Kellerräumen der Quovoria-Versicherung zukünftig als Archiv dienen und dort deponierte Akten wirksam gegen Feuer und eindringendes Wasser schützen. Man stellte darüber hinaus fest, dass der gesamte Kellerbereich von den Arbeitern in den vergangenen Wochen nicht mehr betreten worden war. Die Arbeiten waren abgeschlossen, und es hatte eine schriftliche Weisung von Dominique Rühl-Brossard gegeben, dass der Zutritt in den gesamten späteren Archivbereich untersagt sei. Ein entsprechendes Hinweisschild hatte sich nach Angaben der Bauarbeiter an der in das Archiv führenden Tür befunden. Es konnte jedoch nicht mehr aufgefunden werden.
Noch am späten Abend dieses Tages, Punkt 23 Uhr, ließ sich Staatsanwalt Bekim Ylberi von einem Einsatzfahrzeug der Polizei mit Blaulicht und Martinshorn vom Standort der Radarfalle an der Ruhrallee auf dem schnellsten Weg zum Bahnhof Kurl fahren. Trotz leerer Straßen, überhöhter Geschwindigkeit und Überfahrung etlicher roter Ampeln betrug die Fahrzeit 17 Minuten. Damit stand fest, dass Pierre Brossard nicht der Mörder von Franziska Bellgardt sein konnte, denn es war faktisch unmöglich, vom Zeitpunkt der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung mit dem Auto zum Bahnhof Kurl zu gelangen, um Franziska dort auf dem Bahnsteig zu treffen und sie vor den Zug zu stoßen. Andere Wege oder Fortbewegungsmittel schieden aus.
Der beabsichtigte Haftbefehl gegen Dominique Rühl-Brossard hatte sich erledigt. Ylberi war sich sicher, dass sie die Anstifterin oder mittelbare Täterin zu dem Mord an Franziska Bellgardt gewesen sein musste. Als eigenhändige Täterin schied sie aus. Doch mit Dominiques Tod verschwand die einzige Person, die denjenigen kennen musste, der Pierre Brossard in der Beziehung mit Franziska Bellgardt gespielt hatte. Dominiques Tod hatte die Vermutungen des Staatsanwalts bestätigt und ihn dennoch zum Verlierer werden lassen, denn die Aufklärung des Mordes an Franziska Bellgardt war erschwert, wenn nicht gar unmöglich geworden.
22
Staatsanwalt Ylberi hatte sich mit Marie und Stephan am Mittwochabend in dessen Büro verabredet. Er berichtete gerafft von allen Ereignissen des gestrigen Tages. Stephan empfand den Staatsanwalt als außergewöhnlich hastig, doch er verstand, dass Ylberi mit der vollständigen Sammlung aller Fakten die Grundlage schaffen wollte, die seine Schlussfolgerungen verständlich machten. Ylberi nahm vorweg, dass er derzeit nur noch die Chance sehe, über eine Analyse der Psyche Franziskas etwas über den Mann erfahren zu können, der sie eingefangen, wahrscheinlich gefügig gemacht und dann wieder fallengelassen hatte. Er schloss ihre Eltern als Informationsquelle aus. Sie waren vom Seelen- und Liebesleben ihrer Tochter zu weit entfernt, als dass sie Wesentliches beitragen konnten. Sie verstanden auch nicht, warum Franziska sich von Daniel trennen wollte, und suchten in ihrer Trauer eine Erklärung dafür, warum sich Franziska selbst ins Unglück gestürzt hatte. Auf Daniel konnte Ylberi nicht setzen, weil er aus der Perspektive seiner eigenen selbstzufriedenen Welt nicht nachvollziehen konnte, dass Franziska gerade dieser Begrenztheit entfliehen wollte, die Daniel in seiner Denkweise zum Ideal erhoben hatte, nicht wissend, dass er damit Franziska beschränkt und erdrückt hatte. Die Freundin Frauke aus Frankfurt war – wie Franziskas Eltern – bereits räumlich zu weit entfernt, um an ihrem Leben engen Anteil nehmen zu können. Überdies hatte sich Frauke im Laufe der Zeit auch innerlich von Franziska distanziert, nachdem sie festgestellt hatte, dass sich Franziska übermäßig an sie zu klammern suchte und regelmäßige und lange Telefonate zwischen beiden einforderte, die für sie als Zeichen der Freundschaft galten. Ylberi hatte verstanden, dass Franziska immer wieder nach Menschen griff, die sie an sich binden und vielleicht als Steigleiter aus ihrem Leben nutzen wollte, das ihr zu eng und einfältig geworden war. Franziska war hierbei zweifellos ungeschickt und – bewusst oder unbewusst – besitzergreifend gewesen, denn sie musste immer wieder die Erfahrung machen, dass sich die Menschen von ihr abwandten. Auch im Krankenhaus war es ihr nicht gelungen, Freundschaften zu schließen.
»Franziska war in der Konsequenz einsam und hätte nach meiner Einschätzung professioneller Hilfe
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