Irrliebe
Tages, Dienstag, den 17. November, wurde die Leiche von Dominique Rühl-Brossard an der Rückseite des kurz vor der Vollendung stehenden Neubaus der Quovoria-Versicherung am Rande der südlichen Innenstadt gefunden. Bauarbeiter fanden Dominique, die bauleitende Architektin dieses Hauses gewesen war, gegen sechs Uhr früh, als sie die Arbeit aufnehmen wollten. Ihr zerschmetterter Körper lag zwischen einem am Vortag befüllten Schuttcontainer und einem Stapel Schalholz, der für die Stützwände der Zufahrt zur Tiefgarage bestimmt war. Dominique war den ersten Feststellungen zufolge am späten Abend des vorhergehenden Tages offensichtlich vom Dach des Hauses gesprungen. Die Tür, durch die man über die Treppe vom obersten Geschoss mit dem Maschinenraum für die Aufzüge hinaus aufs Dach gelangt, war unverschlossen. Auf dem inneren Türknauf wurden Dominiques Fingerabdrücke festgestellt. In der Krokodilhandtasche, die sie bei sich trug, wurde ein durch einen Ring miteinander verbundenes Paar identischer Schlüssel gefunden, von denen der eine Schlüssel keine und der andere ebenfalls nur Dominiques Fingerabdrücke trug. Ihr grüner Porsche stand verschlossen auf dem Baustellenparkplatz. Die zugehörigen Fahrzeugschlüssel, wie jene zu ihrem Haus, befanden sich in der Handtasche.
Ylberi veranlasste eine sofortige erneute Durchsuchung des gesamten Hauses von Dominique Rühl-Brossard im Kreuzviertel. Einen Abschiedsbrief oder andere Hinweise, die auf einen Freitod von Dominique hindeuteten, fand man nicht. Dafür konnte auf der Kommode im Flur ihrer Wohnung, auf der sie ihre eingehende Post deponierte, ein am gestrigen Tage bereits geöffneter Brief des Ordnungsamtes der Stadt Dortmund sichergestellt werden. Darin befand sich ein Anhörungsbogen, in dem Dominique als Halterin ihres Porsche gebeten wurde, sich zu einer am Freitag, 23. Oktober, um 22.15 Uhr begangenen Geschwindigkeitsübertretung zu äußern. Es war durch ein örtliches Radarmessgerät festgestellt worden, dass zu diesem Zeitpunkt mit dem Porsche die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde unter Berücksichtigung einer Messtoleranz von drei Kilometern in der Stunde an der Ruhrallee nahe dem Westfalenpark Fahrtrichtung Innenstadt um zwölf Kilometer pro Stunde überschritten worden war. Dem Anhörungsbogen war das Messprotokoll und auf diesem das Foto beigefügt, das den Fahrer des Fahrzeuges zeigte: Es war Pierre Brossard. Das Foto war gestochen scharf, das Gesicht konturiert zu erkennen. Ein Vergleich mit dem Passfoto in einem biometrischen Analyseverfahren erstickte jeden Zweifel. Brossard saß allein im Wagen. Die Fingerabdrücke auf dem Briefkuvert und auf dem Anhörungsbogen stammten eindeutig von Dominique.
Am Abend desselben Tages gelang es, das Schloss zu finden, in das die bei Dominique gefundenen Schlüssel passten. Ein Mitarbeiter aus Dominiques Büro identifizierte sie als zu einem im Keller des Neubaus der Quovoria-Versicherung eingerichteten Planungsbüros gehörig, in dem die Architektin ihre mehrbändigen Ausführungspläne unter Verschluss hielt und in dem gelegentliche Baubesprechungen stattfanden. Im Keller dieses Hauses fand man schließlich Pierre Brossard, abgemagert, ungewaschen, unrasiert und in sichtlich geschwächtem Zustand. Überlebt hatte er offensichtlich mit dem Mineralwasser, das wegen der gelegentlichen Besprechungen in Kisten vorrätig war. Man brachte ihn sofort in ein Krankenhaus und behielt ihn zur weiteren Kontrolle dort. Von dem deutlichen Ernährungsdefizit abgesehen, befand er sich in einem den Umständen entsprechend guten Zustand. Ersten eigenen Angaben zufolge befand sich Brossard, dem der Name Franziska Bellgardt nichts sagte, seit Samstag, 24. Oktober, in dem fensterlosen Raum. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und sagte aus, dass ihn seine Frau am späten Abend jenes Tages gebeten habe, mit ihm noch auf die Baustelle zu fahren, weil sie mehrere Ordner mit Planungsunterlagen in den dortigen Keller verbringen müsse, was sie allein nicht schaffen könne. Er sei ihrem Wunsch nachgekommen. Als er sich in dem Kellerbüro daran gemacht habe, die Ordner in Plastikkörbe zu packen, habe Dominique den Raum verlassen und ihn abgeschlossen. Er habe gerufen, schließlich geschrieen, doch sie sei nicht mehr zurückgekommen. Er habe bereits mit dem Leben abgeschlossen. Die Körbe mit den Ordnern konnten sichergestellt werden. Erste Versuche ergaben, dass der als Büro genutzte
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