Isabelle
philosophiert der alte Hinstra da über einen Kirschbaum? Aber genauso einen Baum hatten wir in unserem Vorgarten stehen. Ein dicker, halb vermoderter Stamm, an dem nur noch ein lebender Ast wuchs. Der trug im Frühjahr Blüten, aber die Kirschen waren immer krank und faul, weil die Kraft nicht mehr bis obenhin reichte, nur durch die Rinde kam noch ein letzter Rest Saft. Vielleicht haben Sie ihn gesehen, Sie sind doch sicher dort gewesen?«
»Jetzt stehen dort lauter Koniferen«, sagte Max.
Hinstra nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, und sagte: »Lassen Sie uns nicht über den Tod reden.«
Max nickte. »Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum Alex einen anderen Namen angenommen hat?«
Der alte Mann hob eine Hand und studierte seine Finger. Sie waren mager und rosafarben, fast durchsichtig. Würde man eine starke Lampe darauf richten, könnte man wahrscheinlich seine Knochen erkennen. »Mir kam es so vor, als habe er ein sehr bewegtes Leben geführt …« Er ließ die Hand wieder auf die Lehne sinken und schüttelte den Kopf. »Er war für mich ein Fremder geworden, ich hatte ihn so lange nicht gesehen. Auch ich war natürlich ein Fremder für ihn, nach all der langen Zeit. Unsere Gespräche glichen oft den Konversationen, die man im Urlaub mit einem freundlichen Touristen betreibt, der sich in der Kneipe auf den Barhocker neben einen setzt. Nicht dass ich noch oft in eine Kneipe ginge.«
»Wie alt war er, als er von zu Hause wegging?«
»Achtzehn. Mit siebzehn ist er von der Fachoberschule abgegangen, er war ein begabter Junge. Er wollte gern die Seefahrtschule besuchen, dafür musste er aufs Internat. Da hat er es ein Jahr lang ausgehalten, dann erhielt ich einen Brief, in dem er schrieb, er habe als zwölfter Steuermann auf einem deutschen Frachtschiff angeheuert. Ich nahm an, das hieß so was wie Schiffsjunge. Er schrieb uns Karten von hier und dort, manchmal auch einen Brief. Dann hörten wir zwanzig Jahre lang nichts von ihm, und plötzlich stand er hier bei mir altem Witwer vor der Tür. Er arbeitete in Sneek.«
CyberNel hatte die Sache mit Sneek überprüft, aber nichts Auffälliges festgestellt. Ben Visser hatte in einem Bungalowpark gewohnt und auf einer Yachtwerft Instandhaltungsarbeiten ausgeführt. Das Einzige, woran sich die Leute dort erinnern konnten, war, dass er nach einem Jahr plötzlich seine Stelle aufgegeben hatte und weggezogen war. »Hat er Ihnen nichts über diese zwanzig Jahre erzählt?«
»Er hat lange in Amerika gelebt.«
»Hat er sich da mal eine Schussverletzung an der Hand zugezogen?«
»Ja. Er arbeitete in Florida als Skipper auf so einer luxuriösen Hochseeangler-Yacht, und es gab eine Schießerei, bei der ihn eine verirrte Kugel traf. Mehr habe ich nicht aus ihm herausbekommen, aber den Zeitungsberichten konnte man das ein oder andere entnehmen.«
Florida und Yachten. Drogen vielleicht, möglicherweise hatte er in irgendeinem Fall als Zeuge ausgesagt oder er war als Kronzeuge aufgetreten und hatte eine neue Identität erhalten, mit den besten Grüßen vom FBI. Darauf spielten jedenfalls die Zeitungen an, und auch die Polizei ließ etwas in der Richtung verlauten. Max wusste, dass er eventuell durch eine Reise nach Amerika dahinter kommen könnte, was aber Kosten verursachen würde, die das Interesse Judith Colijns an der Aufklärung des Falles bestimmt übersteigen würden. Manchmal musste man eine Spur, die aus dem eigenen Aktionsradius herausführte, einfach aufgeben und stattdessen auf etwas anderes zurückgreifen, und wenn es nur eine Eingebung, ein Gefühl war. Max ahnte, dass die beiden verschiedenen Namen etwas Wichtiges zu bedeuten hatten. Vielleicht musste er all seine Theorien umwerfen und noch einmal von vorne anfangen.
Sein System war, dass er meistens kein System hatte. Normalerweise ging er einen Fall an, indem er sich einen allgemeinen Überblick über die grundlegenden Fakten verschaffte. Danach pickte er auf gut Glück lose Fäden und auffällige Elemente heraus und studierte sie, liebäugelte mit Vermutungen und folgte seinen Instinkten. Manchmal lieferte die hartnäckige Verfolgung eines einzigen, absurd erscheinenden Verdachts den Schlüssel zum gesamten Puzzle. Genauso gut konnte ihn so ein Sprung aber auch vor eine undurchdringliche Wand führen, und er musste auf die weniger aufregende, Zeit raubende, klassische Ermittlungsmethode zurückgreifen. Der alte Mann hatte gesagt, dass die Polizei nicht bei ihm gewesen war, aber erst nach
Weitere Kostenlose Bücher