Isau, Ralf
und zerknitterten schwarzen Anzug erwiderte die Geste.
»Wenigstens bleibe ich den Büchern verhaftet«, murmelte Karl, der sich trotz des enormen Altersunterschieds sofort erkannt hatte. Ich will endlich wieder der sein, der ich wirklich bin! Dieser Gedanke hatte ihn aus dem Moorschlund gerettet. War er das? Dieser alte, bärbeißige Mann? Erst jetzt bemerkte er das Funkeln in den blauen Augen des betagten Herrn Koreander. Dieser Blick hatte so gar nichts von der Verzagtheit, die er sonst immer im Spiegel sah. In ihm lagen Selbstvertrauen, Stärke, Mut.
Weiter links entdeckte Karl nun eine nur unwesentlich ältere, verlumpte und verhärmte Ausgabe seiner selbst, die gebeugt, irgendwie vertrocknet und ganz und gar jämmerlich anmutete. Erschrocken drehte er sich wieder nach rechts.
Schon besser!, dachte er. Karl Nummer fünf war unübersehbar ein Held. Die glänzende Rüstung und das große Schwert an seiner Seite gestatteten keine Zweifel. Mit stolzgeschwellter Brust stand er da, auf eine schwer zu beschreibende Weise vorwärts gerichtet. Eben ein Eroberer. Seine Miene verriet, wie sehr er alle Gefahren verachtete. Nur seine Augen irritierten Karl einmal mehr. In ihnen lag eine Verschlagenheit, die ihm nicht behagte. Zögernd wandte er sich nochmals nach rechts.
Nun hatte er eine halbe Drehung um die eigene Achse vollzogen. Und stutzte. Alles war wieder da: der ausgebeulte Mantel, die schäbigen Schuhe – das Spiegelbild schien dem auf der anderen Seite wie ein Ei dem anderen zu gleichen. Aber auf den zweiten Blick bemerkte Karl doch einige Unterschiede. Der junge Mann im Spiegel wirkte irgendwie selbstbewusster als der gegenüber. Aufrechter. Und jetzt bemerkte Karl noch weitere Einzelheiten. Sein anderes Ich hatte mehr Haare. Er stieß einen kleinen Schrei aus und fuhr sich mit den Fingern durch dieselben. Tatsächlich. Er öffnete Mantel und Jacke, um sich genauer zu betrachten. Ja, es stimmte. Auch die Figur dieser sechsten Ausgabe seiner selbst war irgendwie stattlicher. Die Schultern hingen nicht so müde herab, sondern wirkten breiter, die Hüften schmaler, der Kopf nicht mehr geduckt. Und die Augen? Sie strahlten blau, direkt, voller Selbstvertrauen. Wie bei dem Alten.
Plötzlich fuhr er zusammen. Für einen kurzen Moment, kaum länger als ein Wimpernschlag, hatte er eine andere Gestalt in dem Spiegel gesehen. Sie strahlte gleichsam durch sein Ebenbild hindurch und verblasste sofort wieder. Es war ein kleines, ernstes, blasses Mädchen von neun oder zehn Jahren. Karl bekam eine Gänsehaut. Er entsann sich der Beschreibung Albegas von der Kindlichen Kaiserin. Ihr Haar sei weiß wie frisch gefallener Schnee, vermutlich weil sie uralt war und doch ewig jung. Karl hatte in dem Spiegel auch andere Einzelheiten gesehen, die er nicht vom Bücherdrill wissen konnte: ihr weites seidenes Gewand, ihre nackten Füßchen, die auffallend lang gezogenen Ohrläppchen, das überirdisch schöne Gesicht – das jedoch kränklich aussah. Und dann die bernsteinfarbenen Augen! Oder golden?, fragte er sich zweifelnd; man nannte sie ja die Goldäugige Gebieterin. Sie hatte ihn direkt angesehen, Als wollte sie ihm etwas sagen. Aber da war sie schon wieder verschwunden.
Lange blieb er bewegungslos stehen, weil er hoffte, einen weiteren Blick auf Weisenkind zu erhaschen. Er wusste selbst nicht, warum er ihr spontan diesen Namen gegeben hatte. Vielleicht, weil er in ihren Bernsteinaugen eine wissende Tiefe gesehen hatte, die ihre Kindlichkeit wie ein unergründbares Rätsel erscheinen ließ. Aber hatte Albega nicht genau das gesagt? Ihr Wesen gehört zu den großen Geheimnissen Phantásiens.
Karl schloss für einen langen Atemzug die Augen. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein.
Seine Aufmerksamkeit kehrte zu dem Alter Ego zurück, das auf so subtile Weise dem seinen glich und doch anders war. Langsam drehte er sich noch einmal um die eigene Achse und musterte dabei seine unterschiedlichen Spiegelbilder, die seinem Beispiel folgten. Erst jetzt wurde er sich der bedrückenden Enge bewusst. Er kam sich vor wie eine Bienenlarve in ihrer Wabe. Ich will endlich wieder der sein, der ich wirklich bin! Wieder hallten die Worte durch seinen Sinn, die ihn hierher gebracht hatten. Wer war er denn wirklich? Und wer würde er in Zukunft sein, wenn es ihm jemals gelang, aus dieser offensichtlich türlosen Zelle herauszuschlüpfen? Etwa weiterhin der ihm sattsam bekannte Zauderer? Oder der Junge, der ewig seiner verhunzten Kindheit
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