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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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nachtrauerte? Vielleicht der alte Mann, der das Leben gesehen hatte und daran gewachsen war? Oder der Jämmerling, den seine eigene Unentschlossenheit austrocknete? Dann doch lieber der Held in seiner strahlenden Rüstung! Auch dann, wenn dieser auf nichts und niemanden Rücksicht nahm?
    Dem Gefangenen in der Spiegelwabe dämmerte, dass es für ihn mehrere Wirklichkeiten gab. Er sah seine eigenen Erwartungen, die miteinander im Widerstreit lagen, die Spiegelbilder seiner vielschichtigen Persönlichkeit. Welches würde obsiegen? Wer hatte ihm denn geholfen, die Schwierigkeiten und Gefahren der letzten Stunden durchzustehen? War es der strahlende Held? Nein, der hätte mit dem Waldschrat kurzen Prozess gemacht. Aber offensichtlich auch nicht der Jämmerling. Karl wandte sich wieder dem anderen Ich zu, das den alten Mantel so viel eindrucksvoller ausfüllte, als er es bisher getan hatte. War das er? Hatte dieser junge Mann sich so überraschend geschickt auf den Rücken des Riesenschleimlings geschwungen, so beherzt mit der fliegenden Tentakelbestie gekämpft? Mit einem Mal schmunzelte Karl.
    Das Spiegelbild tat es ihm nach. Wie er blickte es zu dem verbundenen Fußgelenk herab. Um ganz sicherzugehen, kontrollierte er noch einmal die anderen fünf. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Sogar dem Ich Nummer eins, das ihm, wie er bisher geglaubt hatte, am ähnlichsten war, fehlte der Verband und sogar das Schwert unter dem Mantel, wie er nun überrascht feststellte. Dafür zeichnete sich in der rechten Hosentasche, in die er immer das Klappmesser zu stecken pflegte, eine Beule ab.
    Karl wandte sich wieder seinem sechsten Ich zu. Er atmete tief durch. Dann trat er durch den Spiegel.

    ∞
       
    Er hatte ja eine positive Wendung erwartet, aber was er nach dem Verlassen der Spiegelwabe erlebte, überraschte ihn dann doch. Karl stand in einem gemütlichen Zimmer, das in ländlichem Stil eingerichtet war. In der Luft hing ein Duft von Erbsensuppe. Den Boden bedeckten rote, blank geschrubbte Ziegelsteine. Die Wände waren weiß getüncht und mit Trockenblumen, Dreschflegeln, schlichten Bildern und anderen Utensilien rustikalen Lebens geschmückt. Über die Decke zogen sich braune Balken, eigentlich nicht viel mehr als abgeschälte und versiegelte Baumstämme. Über diesen Sparren lagen wieder Ziegel. Zur Linken führte ein oben abgerundeter Durchgang in ein Nebenzimmer, aus dem das Klappern von Töpfen zu hören war – vermutlich die Küche. Auf der anderen Seite bemerkte Karl einen aus Feldsteinen gemauerten Kamin, in dem ein munteres Feuerchen brannte. Und davor, in einem braunledernen Ohrenbackensessel, aus der Meerschaumpfeife blaue Wölkchen paffend und versonnen in die Flammen blickend, saß Thaddäus Tillmann Trutz.
    »Ach du liebes bisschen!«, entfuhr es Karl.
    Der Buchhändler drehte sich um. »Ah! Wir haben Besuch. Das ist aber nett!«
    Vor Überraschung und weil das verletzte Bein auf jede unbedachte Bewegung mit heftigen Schmerzen reagierte, war Karl gegen eine Petroleumlampe getaumelt, die neben ihm an der Wand hing. Rasch rückte er das gläserne Licht wieder gerade. Er stand in einem Alkoven, in dem eine kleine Bank mit grünem Polster unter der Lampe zum Lesen einlud. Karl grinste den alten Mann schief an. »Guten Tag, Herr Trutz. Wo sind Sie gewesen? Wir haben Sie vermisst.« Er trat aus der Mauernische, humpelte zum Sessel und reichte dem Buchhändler die Hand.
    »Vermisst? Mich? Aber ich bin doch hier.«
    »Ja, jetzt, aber vorher ...«
    »Vorher«, unterbrach Herr Trutz den Besucher brummig, »vorher – was soll denn das heißen?«
    »Seit wann sind Sie denn schon hier?«
    »Seit wann? Na, solang' ich denken kann.«
    Karl ahnte Schlimmes, und als der Alte nach einem musternden Blick erneut die Stimme erhob, wurden seine ärgsten Befürchtungen wahr. »Wer sind Sie überhaupt?«
    »Erkennen Sie mich denn nicht?«, fragte Karl, und es klang eher nach einem Flehen.
    »Ich? Sie kennen? Woher denn?«
    »Ach du liebes bisschen!«
    »Sie wiederholen sich, junger Mann.«
    Karl suchte hektisch seine Manteltaschen ab. »Ich bin Karl Konrad Koreander. Ihr Mitarbeiter. Ihr kommissarischer Geschäftsführer. Ihr designierter Erbe ... Hier! Da ist sie. Diese Generalvollmacht haben Sie ausgestellt, Herr Trutz. Damit machen Sie mich zu Ihrem Nachfolger.«
    Der Alte nahm Karl das Dokument ab, faltete es auseinander und betrachtete es durch sein Augenglas. »Was soll denn das sein?«
    »Ihre Vollmacht. Oder

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