Isau, Ralf
geworden bin?«
»Sie sind viel agiler, als ich Sie von unserem letzten Zusammentreffen in Erinnerung habe. Und durch Ihr Monokel schauen Sie auch nicht mehr.«
Der Alte schüttelte grinsend den Kopf. »Ist das nicht prächtig? Jeder verändert sich, wenn er nach Phantásien kommt, manche nur unmerklich, andere erkennt man kaum wieder. Passen Sie auf, dass Sie sich nicht am Ende noch in einen Bären verwandeln, junger Mann.«
Karl erschrak.
Herr Trutz zwinkerte ihm zu. »War nur metaphorisch gemeint.«
Nicht völlig beruhigt gab Karl zurück: »Welches Spiegelbild haben Sie in der Wabe als Ausgang benutzt?«
»Den Mann, der noch eine große Aufgabe zu erledigen hat. Und Sie?«
»Den, der die meisten Haare auf dem Kopf hatte.«
Alle drei lachten.
In diesem Moment kam Qutopía herein, unter dem Arm mehrere große Rollen. »Entschuldigt, hat etwas länger gedauert. Was ist denn hier los?«
»Wir lachen über Herrn Koreanders geschmacklose Tätowierung am Fuß. Ein Tintenfisch hat sie ihm beigebracht.«
Die junge Frau blickte ein wenig verwirrt auf Karls verletztes Bein. Er hätte gerne gewusst, was das für ein Ausdruck war, den er für einen Moment in ihren Augen bemerkte. Schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Hier sind die Karten.«
Sie warf alle auf den Tisch und breitete die erste aus. Karl sah Gebirge, Seen, Wälder, Ozeane – und schon hatte Qutopía ihre Karte wieder zusammenrollen lassen. »Nee, da ist sie nicht.«
Mit dem zweiten Plan verfuhr sie genauso. Erst die dritte Karte ließ ihre grünen Augen aufleuchten, und sie bohrte ihren Zeigefinger mitten in das gelbe Papier. »Aber da!«
Karl traute seinen Augen nicht. Unter Qutopías Finger befand sich ein ovaler Fleck, der sich bewegte. Er hätte ihn für eine Insel gehalten. Daneben stand aber der Name »Wolkenburg«. Was denn das für eine Karte sei, fragte er verwundert.
»Sie wurde von dem berühmtesten Kartenzeichner Phantásiens angefertigt.«
»Querolat!«, stieß Herr Trutz hervor und rammte seinen Stock auf den Boden. »Der Name kam mir gleich so bekannt vor.«
Qutopía nickte, nicht ohne Stolz. »Und neuerdings versucht er sich an mechanischen Drachen.«
»Versucht?«, hakte Karl nach.
»Er hat erst einen gebaut.«
»Und der fliegt?«
»Ich bin mit der Fuchur hergekommen. Ohne eine einzige Panne.«
»Fuchur?«
»Wenn man Schiffen einen Namen gibt, dann auch künstlichen Drachen, meinte mein Vater. Fuchur ist ein berühmter Glücksdrache. Viele Legenden ranken sich um ihn. Leider sind diese Wesen sehr selten geworden, und man hat ihn lange nicht mehr gesehen.«
»Daher der Nachbau.«
»Was?«
Karl lächelte verlegen. »Das Wort ist vielleicht nicht ganz zutreffend. Ich wollte sagen, ich bewundere Ihren Vater für das, was er getan hat, und wünsche Ihnen und Herrn Trutz einen guten Flug.«
»Sie kommen natürlich mit«, sagte der Alte. Es klang eher wie ein Befehl.
»Aber Sie sind doch der Meisterbibliothekar.«
»Und Sie mein Stellvertreter.«
»Deshalb muss ich auch auf den Greif warten und zur Phantásischen Bibliothek zurückfliegen, damit jemand auf sie ...«
»Schnickschnack!«, schnitt ihm Herr Trutz das Wort ab. »Ich brauche Sie bei mir.«
»Mich? Brauchen? Aber das ist doch lachhaft. Mich hat noch nie jemand gebraucht. Ich ...« Karls Blick wanderte kurz zu Qutopía, dann wieder zum Meisterbibliothekar zurück. Jetzt half nur Offenheit, selbst wenn er sich damit vor aller Ohren zu einem Versager machte. »Ich habe einfach keinen Mumm in den Knochen. Ich schaff sowieso nichts. Ich ...«
»Das sagen Sie nur, weil Ihr Vater Ihnen das eingeredet hat«, unterbrach ihn abermals der Buchhändler.
»Nein! Oder vielleicht doch. Ist ja auch egal. Mit mir halsen Sie sich nur Ärger auf. Ich kann keine Entscheidungen treffen ...«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Herr Koreander. Mein Hirn funktioniert inzwischen wieder ganz gut. Und wissen Sie, wem ich das zu verdanken habe? Ihnen! Ich kann mich sehr gut daran erinnern, was Sie mir gestern von Ihrer verkorksten Kindheit und Ihrem verbitterten Vater erzählt haben. Sie haben als Neunjähriger einen Haushalt geführt. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass man dazu Mut und Findigkeit und ...ja, auch Entschlossenheit braucht?«
»Ja, schon, aber...«
»Und dann die Wabe. Denken Sie, ich habe den Ritter in der glänzenden Rüstung nicht gesehen? Ein verlockendes Angebot, das Ihnen der Spiegel da gemacht hat, aber Sie haben sich anders entschieden.
Weitere Kostenlose Bücher