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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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nachgeschenkten Bierkrügen an den Tisch, um sich zu den Gästen zu gesellen, so verlangte es die Gastfreundschaft.
    »Wie kommst du darauf, dass er sie isst?«, wiederholte Günther seine Frage.
    »Ich … es war nur – ich dachte, Ihr redet von Michael von Bremen.«
    »Das tun wir«, bestätigte Henning von der Braake.
    »Du kennst ihn?«, fragte Konrad. Petrissa sah ihn an, ein schöner junger Mann, dem sie nur zu gern zu Gefallen war. Sie nickte.
    »Hin und wieder macht er hier halt«, bestätigte ihr Bruder Huste.
    »Aber wir setzen ihn nicht mehr über, es gibt jedes Mal Streit um den Preis«, fügte Ludolf hinzu, »deswegen nimmt er die Furt weiter im Süden.«
    »Was hat er am Preis auszusetzen?«, fragte Konrad.
    Huste wollte schon antworten, aber Isenhart kam ihm zuvor: »Wieso sollte er Herzen essen?«
    »Erinnert Ihr Euch an 1191? An den Winter nach den Missernten?«, fragte Anselm mit bedrückter Miene. Sie nickten.
    Petrissa verzog das Gesicht und ergriff gleichzeitig Konrads Hand. »Jetzt wird es eklig«, sagte sie und erhob sich, ohne ihn dabei loszulassen. »Kommt«, sagte sie nur und lächelte ihn an.
    Konrad zögerte kurz, was seine Ursache nicht in der Anwesenheit der anderen hatte, sondern in Marie, die in Heiligster auf ihn wartete. Andererseits war Petrissa ein schönes Kind. Und was war schon dabei, wenn er sich etwas Entspannung gönnte? Schließlich hatte er nicht vor, sie zu ehelichen. Also stand er auf. Sibille lächelte ihn an. Auch sie war einen zweiten und dritten Blick wert, deshalb nickte er ihr zu. Und zu dritt verließen sie den Schankraum und verschwanden nach nebenan. Die anderen sahen ihnen nicht einmal nach.
    »Was war 1191?«, nahm Isenhart den Faden wieder auf.
    »Die große Hungersnot«, antwortete Anselm, »viele starben damals. Michael von Bremen war durch die Schneemassen auf seiner Burg in Tarup abgeschnitten, es gab kein Durchkommen. Und über sein Gesinde kam der gemeine Sterb.«
    »Erst ging das Korn aus«, sagte Huste.
    »Dann das Vieh«, führte Ludolf fort.
    »Sie aßen Baumrinde«, sagte ihr Vater, »sie kauten an Tierhäuten, und zuletzt kratzten sie das Moos von den Mauersteinen.«
    »Selbst das Stroh haben sie gefressen«, ergänzte Ludolf.
    »Und als sie nichts mehr hatten, da bedienten sie sich an den Toten. Der Winter war hart, die Leiber auch, sie erhitzten sie in einem großen Trog, eine Suppe aus Menschen, denen sie das Fleisch von den Knochen kochten.«
    Hennings Magen rührte sich, er musste schlucken. Anselm und seinen Söhnen entging das nicht, Anselm lächelte schief. Es war seine Lieblingsgeschichte.
    Isenhart verdrängte sein aufkeimendes Unwohlsein: Auch Barbarossas Sohn Friedrich ließ seinem Vater das Fleisch von den Knochen lösen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Konservierung in Essig nicht ausreichend war, um ihn in Jerusalem beerdigen zu können. Deshalb wurden die Eingeweide und das Herz in Tarsos zur letzten Ruhe gebettet, die Gebeine in Tyros und sein Fleisch in der Peterskirche zu Antiochia.
    Trotzdem erhob sich vor seinem geistigen Auge das Bild von nackten, ausgemergelten Leibern, die allesamt mit ihren kurzen und langen Haaren, mit ihren ineinander verschlungenen Extremitäten sanfte Kreise in einer Brühe zogen, aus der hin und wieder ihre toten Augen starrten.
    »Das Herz«, erinnerte Günther von der Braake den Herbergsvater.
    Das Lächeln schwand aus dem Gesicht des Gastgebers, ganz offensichtlich waren seine Gäste keine Freunde der Erzählkunst. »Michael von Bremen hat die Herzen gegessen, weil niemand sonst sie angerührt hat.«
    »Man isst kein Herz«, sagte Huste.
    »Es war einer unter ihnen, den ich gekannt habe«, fuhr Anselm fort, »so groß, dass er sich bücken musste, wenn er hier einkehrte, Arme so dick wie Beine. Er war in der Nacht erfroren, und Michael von Bremen schnitt ihm das Herz heraus, bevor er den anderen seinen Körper überließ. Er verzehrte das Herz, als es noch lauwarm war. Und danach geschah etwas Merkwürdiges.«
    Anselm legte eine Pause ein, denn was nun kam, war zweifellos der Höhepunkt der Geschichte. Die drei Augenpaare der Gäste waren gespannt auf ihn gerichtet.
    »Danach konnte er so schnell laufen …«, begann Huste, aber Anselm züchtige ihn mit einem Schlag der flachen Hand ins Gesicht.
    » Ich erzähle«, bestimmte er. Und Huste fügte sich.
    »Also«, fuhr er fort, »danach geschah etwas Merkwürdiges.«
    Mit einem Schlag wich das wonnige Gefühl, das Anselm beim

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