Isenhart
war nicht klar, wie sich das Wunder ereignen sollte, auf das er hoffte. Gab es einen Ritus, der es ihm erlaubte, Anna aus dem Jenseits zu erlösen? Sie in die Arme zu schließen und ihre warmen Lippen auf den seinen zu spüren?
Er wäre blind und nackt über die gesamte Erdscheibe marschiert, wenn das der Preis dafür gewesen wäre. Aber das Blut roch nicht nur, sondern schmeckte auch nach Eisen und machte ihm klar, dass er nicht mal mehr einen Teil von Anna heraufbeschwören konnte. Nicht ihren Geruch, nicht ihren Geschmack. Die süßlichen Brennnesseln.
Der sanfte Bogen, den ihr Hals beim Pilzesammeln schlug, ihr staunendes Gesicht, wenn er von der Artusrunde sprach und ihr dabei der Mund halb offen stand, was ihr auf unerklärliche Weise nichts von ihrem Liebreiz nahm, die Anmut ihres Gesichts im Schlaf oder die Behändigkeit, mit der sie über einen Bach sprang,oder all die Tonarten, in denen sie seinen Namen aussprach, mal tadelnd, mal einem Seufzer gleich und nie, nie ohne bedingungslose Zuneigung.
All diese Momente waren nur noch Spiegelungen seines Geistes und würden mit seinem eigenen Tod für immer verloren sein.
Er atmete tief durch, dann erhob er sich.
»Henrick.«
Keine Antwort. Isenhart stand leicht gebückt in dem Hühnerstall und wisperte den Namen des jungen Mannes, als dessen Bruder er aufgewachsen war. Die obere Begrenzung des Stalles erlaubte ihm keine aufrechte Haltung.
»Was treibst du da, du Kretin?«
Isenhart fuhr herum.
Am Eingang des Stalls stand ein Plünderer, bärtig, mit zerlumpten Kleidern. Die Pupillen des Mannes flogen unstet hin und her, als sei hier ein Schatz verborgen, den er nicht sehen konnte. »Bist du stumm?«
»Nein«, erwiderte Isenhart leise, »ich schaue mich nur um.«
»Umschauen? Wonach? Die Hühner sind doch längst weg.« Misstrauen hatte sich in die Stimme des Mannes geschlichen. Verheimlichte dieser junge Mann etwas vor ihm? Etwas, das er nicht zu teilen gedachte?
In diesem Augenblick erschien Wilbrand von Mulenbrunnen im Burghof, auf dessen Grund die Leichen aufgereiht worden waren. Zwölf Reihen aus Leibern, Jung und Alt, Mann und Frau.
Er schritt sie ab, inspizierte die Gesichter.
Er sucht Konrad, dachte Isenhart. Um ihn herum wurde die Burg geplündert, aber nicht geschleift. Niemand war damit beschäftigt, die Burgmauern abzutragen.
»Willst du mir wohl Antwort geben, du Taugenichts? Oder gehörst du zu den Laurins, hm? Gehörst du zu den Laurins?«
Sofort war Isenharts Aufmerksamkeit wieder bei dem Mann, der nun in der Tür zum Stall stand und ihn voller Argwohn beglotzte. »Nein«, erwiderte Isenhart mit der Miene eines Simpels, »muss man das, um hier sein zu dürfen?«
Der Plünderer grinste breit und entblößte anstelle von Schneidezähnen eine Reihe brauner Stummel. »Gott, bist du dumm«, stellte er fest, »was suchst du hier? Sag’s mir!« Er trat noch einen Schritt vor.
»Eier«, erwiderte Isenhart und tastete nach dem Dolch, mit dem er bereits Rogier van Heyden getötet hatte. Wenn dieser Trampel ihn weiter bedrängte, würde er ihn töten müssen. Leise – wie auch immer er das anstellen sollte.
»Pah«, stieß der hervor, »Eier?«
»Ja«, bekräftigte Isenhart angespannt.
Der Mann trat in den Stall, Isenhart umschloss den Knauf der Stichwaffe.
»Lass den Dolch stecken«, flüsterte der Plünderer. »Du bist Isenhart, nicht wahr?«
Isenhart erstarrte, nur seine Hand bewegte sich und zog die Klinge zwischen Gürtel und Leinen hervor.
»Henrick ist bei seinen Hühnern, direkt unter uns«, fuhr der Mann leise fort, »du musst ihn hier wegschaffen. Und ich kann dir dabei helfen.«
Isenhart zögerte. »Wer bist du?«
»Gunther. Ich habe die Eier in Grüningen verkauft.«
Isenhart steckte den Dolch an seine Stelle zurück. Henrick hatte ihm von Gunther erzählt. Die Identität des Mannes konnte er unter diesen Umständen schwerlich überprüfen. Er musste ihm vertrauen und auf das Beste hoffen.
Tatsächlich hatte Henrick ganze zwei Tage mit seinen Hühnern unter der Erde zugebracht, nur durch die Holzröhren mit Luft versorgt. Wie Isenhart vermutet hatte, war Henrick nach dem Fall des Tores das Risiko für Leib und Leben zu groß erschienen. Auch die Sorge um die mühsam gezüchteten Cochins, die bei der bevorstehenden Plünderung höchstwahrscheinlich in die Hände eines debilen Grobians fallen würden, waren ihm ein Graus.
Also begab er sich zu ihnen und wisperte beruhigend auf sie ein, wenn sie aus Panik und Stress ihr
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