Istanbul
deutschen Kaiser Wilhelm II., beim Volk nicht, das zahlreichen Repressalien ausgesetzt war. Antichristliche Ressentiments der moslemischen Bevölkerung setzte Hamit II. zudem systematisch gegen die Armenier ein. Unter ihm erfolgten der Anschluss İstanbuls an das Eisenbahnnetz Europas und der Bau der Bagdad-Bahn. Das Ende seiner Herrschaft führten junge Offiziere herbei, die sich gegen ihn erhoben. Heute verwendet man dafür den Ausdruck „Jungtürkische Revolution“. Danach übernahm das Militär die Macht.
Im Ersten Weltkrieg schlug sich das Osmanische Reich auf die Seite der Deutschen. Letztere schauten zur Seite, als die jungtürkischen Nationalisten 1915 das Gros der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste schickten. Nach unterschiedlichen Schätzungen kamen dabei zwischen 200.000 und 1,5 Mio. Armenier ums Leben. Den Vorwurf des Genozids weist die Türkei, die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs ist, vehement von sich.
In der Schlacht von Gallipoli im gleichen Jahr, einem der blutigsten Stellungskriege der Weltgeschichte – man schätzt die Verluste auf alliierter Seite auf ca. 150.000 Mann, auf türkischer Seite auf ca. 90.000 Soldaten –, tat sich ein damals noch unbekannter Offizier hervor: Mustafa Kemal, der später als „Atatürk“ in die Geschichte eingehen sollte.
Die Türkische Republik
Nach dem Krieg wurde das Osmanische Reich unter den alliierten Siegermächten aufgeteilt, sodass es letztendlich aus nichts anderem als aus Inneranatolien bestand. Italien besetzte den Küstenstreifen um Antalya, Frankreich Kilikien, englische Kriegsschiffe kontrollierten den Bosporus. Die Griechen, die Ostthrakien erhalten hatten, marschierten zudem mit ihren Truppen von Smyrna (heute İzmir) auf Ankara zu, um ein neues Großgriechenland zu schaffen. Der Vormarsch stieß auf erbitterten Widerstand der Türken. Unter Mustafa Kemals Führung begann ein über zwei Jahre andauernder Befreiungskrieg, in dessen Verlauf die Griechen aus Anatolien vertrieben wurden. Die anderen Besatzer bekamen es dabei mit der Angst zu tun und zogen freiwillig ab.
Am 29. Oktober 1923 – heute ein Feiertag – wurde die Türkische Republik ausgerufen, und zwar in Ankara, der neuen Hauptstadt, vom neu gewählten Staatspräsidenten Mustafa Kemal, besser bekannt als Atatürk. Zu jener Zeit zählte die gesamte Türkei ca. 13,6 Mio. Einwohner, in etwa so viel, wie İstanbul heute. Eine neue Verfassung trat in Kraft, die u. a. die Trennung von Staat und Religion (Laizismus) vorsah. Grundlage des Staates war nun nicht mehr der Koran, sondern das schweizerische Zivilrecht, das italienische Strafrecht und das deutsche Handelsrecht.
Bis zu Atatürks Tod wurden unzählige Reformen durchgeführt, welche die Türkei näher an Europa heranführen sollten: Bildungs- und Schriftreform (Übergang zum lateinischen Alphabet), Einführung von Familiennamen, Umstellung des Ruhetags von Freitag auf Sonntag, gesetzliche Gleichstellung der Frau, Wirtschaftslenkung zur Industrialisierung usw.
Atatürk – Vater der Türken
Atatürks Konterfei grüßt in jedem Büro, Geschäft, Restaurant, verabschiedet sich mit jeder Note beim Bezahlen – und lähmt den Einfallsreichtum der türkischen Bildhauer, denn außer für Atatürk-Statuen werden nur selten öffentliche Aufträge vergeben. Kaum einem anderen Staatsmann wird posthum noch solch ein Personenkult zuteil. Mustafa Kemal, um 1881 als Sohn eines Zollbeamten und einer Bauersfrau im damals weltoffenen Saloniki (das heutige Thessaloniki) geboren, zeichnete sich nicht nur als Offizier aus, sondern auch als Präsident, der die Türkei in einem gewaltigen Kraftakt säkularisierte und europäisierte. Er vertrat den Kurs einer strikten Trennung von Staat und Religion. Für den Staatsgründer war der Islam das größte Hindernis bei der Modernisierung des Landes („Der Politiker, der zum Regieren die Hilfe der Religion braucht, ist nichts anderes als ein Schwachkopf“). Kemal verwarf die islamische Jahresrechnung und hob die Stellung des Islam als Staatsreligion auf. Für seine Verdienste verlieh ihm das Parlament 1934 den NamenAtatürk, „Vater der Türken“. Und selbst Winston Churchill erkannte neidvoll an: „Jedes Jahrhundert bringt nur eine geniale Person hervor, leider gab Gott in diesem Jahrhundert diese geniale Person den Türken.“ So ruhmreich Atatürks militärische und politische Laufbahn war, im privaten Leben sah es nicht so rosig aus. Er war ein Bewunderer schöner Frauen, doch
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