Jade-Augen
hinteren Ende des Hauses, wo sie die Rast der Männer nicht stören würden. Selbst wenn sie neben Akbar Khan geritten wäre, hätte sich Ayesha dieser dem Brauch entsprechenden Trennung unterwerfen müssen und war viel zu sehr daran gewöhnt, um eine Bemerkung darüber zu verlieren. Der Samowar blubberte im Hinterzimmer genauso fröhlich wie vorne, und das war alles, was im Augenblick zählte.
Aber es ermüdete sie, den langen Nachmittag den Schritt ihrer lebhaften Stute dem der Maultiere anpassen zu müssen, auf denen die übrigen Frauen saßen oder vielmehr hingen. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, kühn zu Akbar Khan vorzureiten, erkannte jedoch gleichzeitig, daß sie es nicht wagen sollte. Ihre Kühnheit konnte ihm vielleicht gefallen, genauso aber war es möglich, ihn damit zu erzürnen. Resigniert ließ sie ihren Geist wandern und ihr Pferd im Paßgang gehen.
»Ayesha? Ayesha!« Bei der Wiederholung ihres Namens im Befehlston riß sie den Kopf nach oben und tauchte aus ihren Träumereien auf. Akbar Khan war vor ihr zum Stehen gekommen und hatte sie gerufen. Sie trieb ihre Stute an.
»Ich bitte um Entschuldigung, ich habe dich nicht gehört.«
»Das habe ich festgestellt«, bemerkte er. »Du sahst aus, als seist du eingeschlafen.«
»Bei der Gemächlichkeit, die ich einhalten muß, um die Maultiere nicht zu überholen, kann ich recht gut schlafen.« Sie riskierte nur einen Hauch von Herbheit in ihrer Stimme.
Die blauen Augen verschmälerten sich, und er strich sich einen Moment lang schweigend den Bart. Dann, mit einem Mal, lachte er. »Komm, wenn du galoppieren möchtest, dann werden wir es tun.« Er war den engen, trügerischen Bergpfad entlang verschwunden, noch bevor sie richtig bei Sinnen war. Was für ein unergründlicher Mann er doch war! Wie immer schob sie das Rätsel beiseite und spornte ihre Stute frohlockend zur Verfolgung an.
Schon bald hatten sie ihre Eskorte weit hinter sich gelassen, und Ayesha brauchte ihren ganzen Verstand und ihr Geschick, um die Stute davor zu bewahren, auf den gefährlichen Steinen und durch die Geschwindigkeit, die Akbar Khan vorgab, zu stolpern. Zeitweilig wand sich der Weg an einem Grat über einem tiefen Abgrund entlang, und eine Welle des Entsetzens packte sie, während sie sich verzweifelt auf dem schaukelnden Rücken ihres Pferdes festhielt und das Hirn zermarterte, aus welchem Grund dieser verrückte Ritt von Akbar Khan verfügt worden war. Er wollte ihren Mut und ihre Ausdauer prüfen, und sie war entschlossen, auf jeden Fall mit ihm mitzuhalten; sie würde keinen Moment eher anhalten als er. Er hatte sie in der Vergangenheit schon mehrfach auf die gleiche Weise herausgefordert, wie um zu prüfen, inwieweit sie sich von den Frauen seiner Rasse und Kultur unterschied. Diese Frauen ertrugen schweigend Sklaverei, Brutalität und unaufhörliche Plackerei, aber es war das Schweigen von gebrochenem Willen und nicht das Schweigen des Mutes. Mut war eine männliche Tugend, und doch brachte Akbar Khan seine Engländerin dazu, sich in männlichen Prüfungen zu beweisen. Sie überlegte manchmal, ob es ihn wohl erregte, wenn er sie auf diese Weise herausforderte. Bestand sie die Prüfung, wie es ihr bisher immer gelungen war, folgte ausnahmslos eine Nacht leidenschaftlicher Glut. Manchmal fragte sie sich, was wohl geschehen würde, wenn sie versagte. Würde er sich mit ihr langweilen? Und wenn es so war, welche Zukunft läge dann vor ihr … ein Leben der Verlassenheit in einem Zenana?
Der Wind peitschte sie, zerrte an dem Chadri, und sie ergab sich seinem Zugriff, ließ diesen letzten unvorstellbaren Gedanken mit dem Sturmgebraus davonfliegen. Dann sah sie, wie er die Zügel anzog, ihr weit voraus an einer Stelle, an der sich der Weg weitete und die Herausforderung zugleich mit der Gefahr abnahm. Er saß ruhig im Sattel seines Pferdes und beobachtete, wie sie auf ihn zujagte ohne im Tempo nachzulassen, bis auch sie die relative Sicherheit seines Standorts erreicht hatte.
Der Atem der Stute kam in keuchendem Schnauben, pfiff durch ihre geweiteten Nüstern, und ihre Flanken waren trotz der Kälte schweißgebadet. Ayesha begegnete Akbar Khans Blick unerschrocken, und ihre Augen hinter dem Gitter des Schleiers blitzten triumphierend auf. Langsam nickte er, und ein winziges Lächeln setzte sich in seinen Mundwinkeln fest. Aber er sagte nichts, und sie verharrten in nachdenklichem Warten, bis die anderen anrückten und Ayeshas Tier zu Atem gekommen
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