Jägerin des Herzens
den Zwischenräumen der Fensterscheiben. Als sie immer tiefer in das Gebäude eindrangen, dem Klang der Stimmen nach, umklammerte Lily Alex’ Hand fester.
Sie näherten sich einem großen Raum voller Polizisten, die damit beschäftigt waren, wütende Verdächtige zu überwältigen und Sir Nathan Bericht zu erstatten. Aus allen Winkeln des Hauses wurden jammernde Kinder zu ihm gebracht. Nathan stand mitten im Zimmer, überwachte ruhig das Geschehen und gab mit leiser Stimme Anordnungen, die sofort ausgeführt wurden. Alex blieb stehen, als er vor sich auf dem Boden drei Leichen erblickte. Es waren zerlumpte Männer aus dem Elendsviertel, die wahrscheinlich beim Kampf getötet worden waren. Lily keuchte leise auf, und er betrachtete einen von ihnen genauer und drehte ihn mit der Stiefelspitze um.
Giuseppes glasige Augen starrten sie an.
Lily zuckte zusammen und flüsterte seinen Namen.
Alex musterte den blutgetränkten Leichnam ohne jede Gefühlsregung. »Messerstich«, stellte er teilnahmslos fest und zog Lily in den überfüllten Raum.
Als Nathan sie erblickte, bedeutete er ihnen stehen zu bleiben und kam auf sie zu. »Mylord«, sagte er und wies auf die Leichen hinter ihnen, »der Plan hat gut funktioniert. Knox ist bei Einbruch der Dämmerung sofort hierher geeilt. Nur mit Hilfe unseres Mannes Clibhorne, einem Spezialisten für dieses Viertel, konnten wir ihm bis hierher folgen. Als unsere Männer eintrafen, hatte Knox Gavazzi bereits umgebracht aus Angst er würde den Plan verraten.
Knox hat gestanden, dass er Lady Raiford das Kind zurückgeben und die Belohnung kassieren wollte, die sie ihm versprochen hatte.« Nathan wies auf Knox, der gefesselt mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden hockte. Dort saßen ebenfalls vier weitere Männer, alle Mitglieder der Bande. Knox starrte Lily hasserfüllt an, aber sie bemerkte es gar nicht. Ängstlich glitt ihr Blick über das halbe Dutzend Kinder im Zimmer.
»Was ist mit diesen Kindern?«, fragte Alex Nathan.
»Laut Knox gehören sie alle zu wohlhabenden Familien. Wir werden versuchen, sie ihren Eltern zurückzugeben – ohne die Belohnung anzunehmen, da diese Verbrechen mit Hilfe eines Beamten begangen wurden.« Nathan blickte Knox mit kalter Verachtung an. »Er hat Schande über uns alle gebracht!«
Lily starrte auf die versammelten Kinder. Die meisten von ihnen waren blond und hellhäutig und klammerten sich weinend an die Beamten, die vergeblich versuchten, sie zu beruhigen. Es war ein herzzerreißender Anblick. »Sie ist nicht hier«, sagte Lily benommen, und ihr Gesicht wurde kreideweiß vor Panik. Sie trat vor und versuchte, durch die Menge der Beamten zu blicken. »Sind das alle Kinder?«, fragte sie Sir Nathan.
»Ja«, erwiderte Nathan ruhig. »Seht noch einmal hin, Lady Raiford. Seid Ihr sicher, dass keins der Kinder Eure Tochter ist?«
Lily schüttelte heftig den Kopf. »Nicole hat dunkle Haare«, sagte sie verzweifelt, »und sie ist jünger als diese Kinder hier. Sie ist erst vier. Es müssen noch mehr Kinder da sein, irgendwo muss sie ja sein. Vielleicht in einem der anderen Zimmer. Ich weiß, dass sie Angst hat. Sie versteckt sich vor all diesen Leuten. Sie ist sehr klein. Alex, hilf mir, in den anderen Zimmern nach ihr zu suchen …«
»Lily.« Alex legte ihr die Hand auf den Nacken und brachte sie zum Schweigen.
Zitternd folgte sie seinem Blick. Ein stämmiger Beamter versperrte ihnen die Sicht. Dann sah sie die kleine Gestalt in der Ecke, halb im Schatten verborgen.
Lily erstarrte, und ihr Herz klopfte so heftig, dass sie kaum noch atmen konnte. Das Kind sah seiner Mutter unglaublich ähnlich. Die Augen brannten dunkel in dem kleinen Gesicht. Die dünnen Ärmchen umklammerten ein paar Lumpen, die jemand zu einer Puppe zusammengeknotet hatte. Ernst beobachtete das kleine Mädchen die geschäftigen Erwachsenen um sich herum. Niemand hatte es bemerkt weil es so still war.
»Nicole«, sagte Lily erstickt. »O Gott.« Alex ließ sie los, und sie trat einen Schritt vor. Aber das kleine Mädchen schreckte zurück und sah sie misstrauisch an. Lily schnürte es die Kehle zusammen, und sie wischte sich die Tränen ab, die ihr übers Gesicht strömten. »Du bist meine Kleine. Du bist meine Nicole.« Sie hockte sich vor das Kind. »Sono qui«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe so lange auf dich gewartet. Erinnerst du dich an mich? Ich bin’ s, deine Mama. Io sono tua mamma, capisci?«
Das Kind blickte sie aufmerksam an. »Mama?«,
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