Jan Fabel 04 - Carneval
eine frische Einstichwunde an einer Vene. Ihr Gehirn funktionierte nur träge, und etwas schien auf ihren Kopf einzuhämmern, doch ihr war klar, was das bedeutete. Man musste ihr eine warme Dextrose-und-Salz-Infusion verabreicht haben, um ihre Körpertemperatur zu erhöhen. Und wahrscheinlich hatte man ihr auch eine Maske aufgesetzt, um ihr Sauerstoff zuzuführen.
Maria wusste, dass sie bereits eine tote Frau war. Doch vor ihrem Tod würde sie noch viele Qualen durchmachen: sowohl zu Witrenkos Vergnügen als auch zu dem Zweck, ihr möglichst viele Informationen abzupressen. Aber ihre Kenntnisse reichten nicht aus, um sie am Leben zu erhalten. Witrenko würde Maria irgendwie einsetzen, damit er sich Zugang zu dem Dossier, von dem er besessen war, verschaffen konnte. Sie musste flüchten. Nur so konnte sie überleben und Witrenkos Sieg vereiteln.
Sie war noch immer bis ins Mark durchgefroren. Nun setzte sie sich am Bettrand auf und raffte die muffigen Decken um ihren Körper. Danach zog sie ihren Handschuh aus und wedelte mit der nackten Hand. Die Temperatur im Kühlraum war erträglich. Es musste lange gedauert haben, den Frost aus der kalten Luft zu vertreiben. In der Kammer standen keine Heizgeräte, doch etwas Ähnliches musste verwendet worden sein. Wahrscheinlich hatte man etwas gegen ihre Unterkühlung unternommen und sie irgendwo sediert, bis die Temperatur in diesem Raum hinreichend angestiegen war. Jetzt befand sie sich nicht mehr in einer Folterkammer, sondern bloß in einem Gefängnis. Vorläufig.
Maria versuchte aufzustehen, doch der von ihren gebrochenen Rippen ausgehende Schmerz durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Behutsam tasteten ihre Finger unter den Pullover nach der Quelle des Schmerzes. Man hatte einen Verband um ihre Rippen gewickelt. Sie ließ sich zurück auf das Feldbett sinken und dachte an Buslenko, der für sie nur durch Witrenkos Schauspielerei existiert hatte. Sie lag still da, schaute zur Decke mit dem öden, unbarmherzigen Neonlicht empor und trauerte um einen Unbekannten.
Die Tür öffnete sich, und ein großer, vierschrötiger Mann kam mit einer Schüssel herein. Maria kannte ihn nicht, doch er sah eindeutig russisch oder ukrainisch aus. Sein Haar war kurz geschnitten, und seine Nase zeigte Spuren eines lange zurückliegenden Bruchs. Er stellte die Schüssel neben ihr Bett und verließ wortlos den Kühlraum. Also waren nun andere im Spiel. Vielleicht war Witrenko weggefahren, um sich wichtigeren Geschäften zu widmen. Maria malte sich im Geist ein Bild des Wächters, der das Essen gebracht hatte. Ich werde ihn ›die Nase‹ nennen, dachte sie. Dann widmete sie sich dem Eintopf. Er war so heiß, dass er ihr den Mund verbrannte, aber das kümmerte Maria nicht. Sie freute sich über die siedende Hitze in ihrer Brust und ihrem Bauch und verzehrte jeden Bissen.
Zu ihrer Überraschung hatte man ihr einen Metalllöffel in die Schüssel gelegt. Nach dem Essen leckte sie ihn sauber und rieb ihn über den Steinboden neben dem Feldbett. Nach ein oder zwei Minuten fuhr sie mit dem Daumen an der Kante entlang. Ja, sie konnte ihn schärfen und sich so eine Waffe herstellen. Maria trennte eine Naht der Matratze auf und verbarg den Löffel im Innern. Dann zog sie sich die Decke über die Augen, um sich vor dem ständigen Gleißen der Neonröhre zu schützen. Sie konnte nicht schlafen. Bald dröhnte ihr der Kopf, während sie einen Fluchtplan nach dem anderen ersann, entwickelte und dann verwarf. Vielleicht würde sie heute keine Nahrung mehr erhalten, sodass sich ihr keine Fluchtmöglichkeit bieten würde. Aber selbst bei bester Gesundheit wäre sie ›der Nase‹ nicht gewachsen. Sie musste ihn überrumpeln und sofort töten. Wenn sie die Löffelkante weiter schärfte, konnte sie vielleicht seine Halsschlagader aufschlitzen. Sie würde nur eine einzige Chance haben.
Die Tür öffnete sich. Maria stellte sich unter der Decke schlafend. Sie hörte, wie sich schwere Stiefel näherten. Sie war jetzt noch nicht zu einem Überraschungsangriff in der Lage, zumal sie mindestens einen weiteren Tag brauchte, um den Löffel zu einem tödlichen Instrument zu schleifen.
Die Decke wurde ihr vom Kopf gerissen. Blinzelnd drehte sie sich um und blickte zu dem Mann hoch, der die Schüssel aufgehoben hatte. Er streckte die Hand aus und machte mit den Fingern eine »Gib-her«-Geste. Maria verzog verständnislos das Gesicht. Er wiederholte die Geste, und sie zuckte die Achseln. Der Wächter seufzte verdrossen,
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