Jane Reloaded - Roman

beides zu verstehen: die Vergangenheit und die Zukunft.
    Die Blüten, die um meinen Hals hingen, rochen so neu und anders und so stark, dass alle meine Sinne zu vibrieren begannen. Ich schaute meinem Vater fest in die Augen und strahlte ihn an. Eine unglaubliche Freude hatte mich gepackt, dass ich es geschafft hatte, hier zu sein, im Laos-Labor. In einer feierlichen Hochstimmung, die mich an mein Gefühl beim morgendlichen Blick in den Ngorongoro erinnerte, folgte ich Gregor in Richtung weißes Haus.

3  BEGEGNUNGEN
    Jane sitzt in einem Bambusstuhl in ihrer Wohnhütte. Auch die Dachstreben sind aus Bambusrohr, mit Palmblättern ist das Dach gedeckt. Ein Ventilator kreist über ihr an einem dicken Holzbalken, der das Zimmer in Deckenhöhe in zwei Hälften teilt. In der wirbelnden Luft flattern die Blätter in der Mappe, die Rita ihr nach der ersten Begegnung überreicht hat. Sie soll das Dossier bis morgen lesen. Jane rückt ihren Stuhl in die Ecke, ganz dicht ans Fenster; noch reicht das Tageslicht aus, um zu lesen.
    Sie muss an den Spruch ihrer Großmutter denken: »Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.« Einmal hat sie ihn nun tatsächlich schon gesehen, den Homo erectus. Und das war nicht nur beeindruckender gewesen als hundertmal hören, sondern auch besser als tausendmal lesen!
    Manchmal, wenn sie nach einem Film in einem dunklen Kino hinaus in den hellen Tag trat, hatte sie sich genauso gefühlt. Benommen, wie nicht von dieser Welt, allem entfremdet. Wo bin ich, hat Jane sich dann gefragt und in die Sonne geblinzelt. Genau wie jetzt, bevor sie zu lesen beginnt.
    Was an einem anderen Tag nur Fakten wären, bekommt jetzt ein Gesicht, nimmt Gestalt an. Jane erinnert sich an eine Hand und die Berührung, wie gerührt sie war und wie unsicher. Sie konzentriert sich nun, merkt sich die wichtigsten Details: Das Exemplar ist 1,70 Meter groß und wiegt 70 Kilo, sein Maße liegen nur leicht über den bislang existierenden Schätzungen der Paläoanthropologen. Für sein Gehirn sind 1250 Gramm angegeben, das ist bereits im unteren Homo sapiens -Bereich.
    In seiner Registriernummer LL-HEs-Y-10/III steht das LL für Laos-Labor, HE für Homo erectus. Das kleine S verweist auf zwei Dinge: dass sein Grundgenom aus der Erbinformation von Homo sapiens evoluiert wurde. »Geschlecht männlich« bedeutet das Y. Und die 10 steht für die zehn Folgen aus seiner Sippe, die bereits leben. Eine Folge ist einer Generation vergleichbar, nur viel kürzer. Denn in den Außenlabors wurden die Embryonen einer Linie meistens in Fünfjahresabständen hergestellt und freigegeben. Auf die letzte Ziffer, die römische III, ist Gregors Team besonders stolz. Das Exemplar gehört erst zu der dritten reinen Generation, die von HE-Weibchen und nicht von artfremden Leihmüttern, also Homo sapiens- Frauen, ausgetragen und aufgezogen wurde. Genutzt wurden anfangs für seine Vorgänger bereits existierende Leihmütteragenturen, die in den umliegenden Ländern seit Jahrzehnten erfolgreich arbeiten.
    Die freien HEs leben im ersten Ring, dem Herzstück des Regenwaldbiotops. Es ist je nach geografischen Gegebenheiten abgegrenzt, manchmal mit Zäunen, öfters mit unterschiedlichen Sensorsystemen, wobei an vielen Stellen ohnehin kein Durchkommen ist. Der sogenannte Auslauf umfasst Ring 2, der nicht besiedelt ist und in den ausnahmslos wissenschaftliches Personal Zutritt hat. Nur hier existieren Kameras, in Ring 1 wird die Privatsphäre respektiert. Auch Ring 3 ist für die normale Bevölkerung noch tabu; an seinen Grenzdurchgängen gibt es Patrouillen. In dieser Zone, ganz am Rand und dem Mekong am nächsten, liegt das weiße Forschungszentrum mit der Wohnanlage, wo Jane eingezogen ist. Freundschaftshotel wird der Teil des Haupthauses genannt, in dem sich das Begegnungszimmer befindet. Genau dort hat Jane ihren ersten Homo erectus getroffen.
    Schulungsräume und mehrere Büros gibt es auch. Zwei naturwissenschaftliche Forschungslabors werden betrieben, für Grundaufgaben. Im ersten steht der kleinste und modernste Gensequenzierer, mit dem Genanalysen inzwischen so schnell und billig zu haben sind wie früher Blutuntersuchungen. Das zweite Labor ist eigentlich eine HEs-Gendatenbank, quasi das hominide Einwohnermeldeamt. Bei komplizierten Fragestellungen oder wenn für Vergleichsuntersuchungen Proben von anderen Labors geordert werden, stehen Kühlbehälter bereit, ebenso Kasit Bunang als Fahrer, der meistens vor der Tür in einem Korbsessel döst, wenn