Jane Reloaded - Roman

drehen lässt, bis er den einzelnen Fingern gegenübergestellt werden kann oder – wie die Fachleute sagen – opponierbar ist.
    Nachdenklich tippt Jane mit den einzelnen Fingerspitzen die Kuppe ihres Daumens an, zuletzt mit dem Zeigefinger. Das ist der berühmte präzise und feine Pinzettengriff. Und dann beherrscht sie noch den Haken-, Scheren-, Spannfutter-, Ballen-, Seiten-, Quetsch-, Scheiben- und Kugelgriff.
    Ob Jamie das auch alles kann und seine Daumen wirklich schon maximal opponiert sind? Sie muss ihn unbedingt daraufhin testen. Denn wie wir hand-eln und be-greifen, etwas er-fassen erlaubt Rückschlüsse auf die Fähigkeiten des Gehirns. Dort liegen die Areale für Spracherkennung und für die Hand-und-Mund-Bewegungen ganz dicht beieinander, denn in der Evolution haben sie sich gegenseitig angestachelt. Das Gehirn ist die Software, die Hand die Hardware – diesen Vergleich hat Jane immer bestechend gefunden und das Wortspiel »Handware« auch.
    Was Jamie wohl für eine Software hat? Ob er Musik mag? Vielleicht sollte sie ihm etwas vorsingen und beobachten, wie er darauf reagiert. Vielleicht das kleine Menschwerdungslied, das sie damals auf der Reise zum Ngorongoro wiederentdeckt hat. Und der Text passt sogar zu dem hier auf der Veranda und in ihrem Kopf stattfindenden Affentheater.
    Du bist kein Gibbon, bist kein Gorilla,
jedoch mit Affen eng verwandt.
Den Raum vermag dein Blick zu schauen,
opponierbar ist der Daumen deiner Hand.
    Du bist kein Tarsius, du bist kein Lemur,
bist kein Tupaia, auch kein Potto.
Du bist kein Utan, du bist kein Pavian,
du bist ein Mensch, wir lieben dich so.
    Vom Affen trennen dich Witz und Weisheit,
du wirst auf deinen Füßen stehn.
Dann lernst du laufen und du lernst sprechen,
du bist ein Mensch und du bist schön.
    Du bist kein Dryo-, du bist kein Rama-,
bist überhaupt kein Pithecus,
bist kein habilis, kein neanderthalensis,
bist Homo sapiens und damit Schluss.
    Auf diese Weise, geliebte Tochter,
bestimmt die Forschung unseren Platz.
In der Kultur seist du willkommen,
sie ist der Erde allergrößter Schatz.
    Du bist ein Menschlein, mein schönes Menschlein.
Du bist meine Tanja Jane.
Du bist uns Hoffnung, bist unser Sonnenschein
und du wirst eigene Wege gehen.
    Anfangs singt Jane noch leise und verhalten, dann am Ende klingen die Töne befreit und froh. Ihr Gesang stört die Affen nicht. Sie greifen weiter zu und sie kommt mit dem Verteilen der Bananenstückchen kaum nach. Am Ende des Liedes ist auch die Schüssel leer. Immer mehr Affen sind über die Brüstung geklettert und wieder im Regenwald verschwunden.
    Jane steht allein auf der kleinen Veranda und schaut den menschenleeren Weg hinunter. Hinten blitzt das Hauptgebäude in den Sonnenstrahlen auf, und sie versteht nun, warum viele Thaimylaner bewundernd vom silbernen Haus sprechen. Auf einem Baum in der Nähe entdeckt sie ein Gibbon-Pärchen, das sich friedlich laust.
    Sie nimmt ihren Fächer wieder zur Hand und wedelt sich hektisch kühle Luft zu. Was ist nur los mit mir, grübelt sie. Unruhig geht sie hin und her. Sie kennt sich selbst nicht mehr, wie sie hier alte Schlaflieder singt und über Affenhände sinniert.
    Es ist wohl eine Flucht, gesteht sie sich nach einigem Nachdenken ein. Weil alles einfacher ist, als über das Verhältnis von Homo erectus und Homo sapiens nachzudenken.
    Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen den beiden und damit auch zwischen ihr und ihm? Zwischen Jamie und Jane? Darf oder muss die Grenze fallen? Und an welche Grenze denkt sie überhaupt – wirklich nur an die Sprache?
    Ich muss mich besser kontrollieren und mich nicht ständig von einem Homo erectus verwirren lassen, nimmt sich Jane vor. Zu viel bleibt liegen von dem, was sie sich vorgenommen hat. Weil zu viele Emotionen der Wissenschaft schaden. Das hat schon ihre Urgroßmutter gepredigt. Genau, sie braucht einen kühlen Kopf, muss systematischer arbeiten und sich auf das morgige Gespräch mit Gregor vorbereiten. Sie will mit ihrem Vater über Jamies Sprachunterricht reden und endlich wissen, wann sie ins Freiland darf, in Ring 1, wo die HE-Sippe wohnt.
    Sie hat diesem Ort im tiefen Grün bereits einen Namen gegeben, Lucy-City. Dabei hat sie nicht nur an ihre Freundin Lucy, die Australopithecus- Frau, gedacht. Der Name klingt wie das Global-Fremdwort »Lucidity«, und das bedeutet Klarheit, flirrende Erkenntnis.
    Am Morgen des achten Tages wartet Gregor in seinem Arbeitszimmer auf Jane. Es befindet sich in dem Teil des weißen