Jane True 02 - Meeresblitzen
waren bei meinem Vater. Da sie am nächsten Tag abreisen würden, waren sie wild entschlossen, noch so viele Pokerrunden wie möglich zu absolvieren, in der Hoffnung, ihre Verluste wettzumachen und ihren verletzten Stolz wiederherzustellen.
Trotz der Bedrohung durch Conleth hatten Nell und ich unsere täglichen Trainingseinheiten nicht ausgesetzt. In der ersten Woche, als die Gefahr noch überall lauern konnte, hatten wir hauptsächlich daran gearbeitet, meine Schilde zu verbessern. Aber nun, da wir uns wieder etwas beruhigt hatten, waren wir dazu übergegangen, gezielt an meiner Aura zu arbeiten. Leider hatte ich feststellen müssen, dass ich eine Niete darin war, eine Aura zu schaffen. Mein Gehirn war einfach nicht in der Lage, die Verbindung zwischen dem Hervorbringen eines Bildes und seiner Projektion herzustellen. Nell meinte, das läge daran, dass ich eher physikalischen statt magischen Gesetzen folgte, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was zum Teufel sie damit meinte.
Dementsprechend wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn ich keine große Lust auf das Training gehabt hätte, doch im Gegenteil, ich freute mich sehr darauf, zu Nells Blockhütte zu kommen. Ich hatte noch einen Kaffee geschlürft, bevor ich den Laden verließ, und machte mir deshalb schon auf dem Weg zu Nell beinahe in die Hosen. Die Zwergin müsste mich kurz in ihr Haus lassen oder mit den Konsequenzen leben.
Ich eilte also durch die Abenddämmerung die holprige Auffahrt hinauf und spurtete schnurstracks auf die Blockhütte zu. Als ich die Eingangstreppe erklomm, bemerkte ich, dass die Tür offen stand, obwohl die Fliegengittertür geschlossen war. Nell ließ eigentlich nie die Türen offen, also versuchte ich gar nicht erst einzutreten, sondern ging wie sonst auch über die um das ganze Haus verlaufende Veranda zur Hintertür. Seltsamerweise war auch sie offen.
»Hallo? Nell?«, rief ich und legte eine Hand auf die Klinke der Fliegengittertür, ohne sie jedoch herunterzudrücken. Ich konnte das Badezimmer sehen, das mich so dringend rief, aber nach den Ereignissen in Boston musste ich auf der Hut sein.
Ich spähte in das düstere Innere des Häuschens, bis ich jemanden zu erkennen glaubte: einen großen, menschlichen Schatten oben an der Wand der offenen Galerie, wo sich das einzige Schlafzimmer des Hauses befand. Ich wich von der Tür zurück und aktivierte umsichtig mein Schutzschild.
»Nell, bist du da?«, rief ich plötzlich nervös. »Alles okay mit dir?«
»Ganz ruhig, Jane. Ich bin’s«, ertönte eine knurrende
Stimme, und der dunkle Schatten glitt die Stufen von der Galerie herunter und auf die Tür zu.
»Anyan!« Ich grinste, Erleichterung machte sich in mir breit. Ein riesiger Hund trottete auf die Veranda hinaus. Sein schwarzes, leicht rötlich schimmerndes Fell war genauso dicht und zottelig, wie ich es in Erinnerung hatte. Er wedelte mit dem Schwanz, und sein Maul, aus dem ihm die Zunge heraushing, war zu einem lustigen Hundegrinsen verzogen.
Anyan Barghest wohnte immer in Nells Häuschen, wenn er in der Gegend war, was aber nicht oft vorkam. Er schneite etwa alle drei Wochen herein, blieb ein oder zwei Tage und war dann wieder weg. Er hatte einmal ganz dort gelebt, aber nach den Ereignissen des letzten Novembers im Verbund war Anyan die meiste Zeit über im Einsatz.
Mit seiner breiten Schnauze stieß er die Fliegengittertür auf.
»Los, komm rein. Nell wird gleich hier sein.«
Ich ging hinein und sog begierig den köstlichen Duft von Zitronenwachs und Kardamom ein. Ich war eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, aber es war alles beim Alten. Eine große Küche dominierte die halbe Hütte, großzügig ausgestattet mit einem prächtigen Wolf-Restaurantherd und einer ebenso beeindruckenden Sub-Zero-Gefrierkombi. In der restlichen Hälfte des Häuschens stand ein großer Tisch auf Böcken, an dem vermutlich bis zu zwanzig Leute Platz fanden, und eine Sitzecke voll mit bequemen, dick gepolsterten Möbeln aus abgewetztem, braunem Leder.
Ich zuckte zusammen, als Anyan mit seiner kalten Nase an meinen Fingern schnüffelte, und musste lachen, als er
anschließend seinen Kopf unter meine Handfläche schob. Bereitwillig kraulte ich ihn hinter den samtigen, aufgestellten Ohren, deren Spitzen sich in etwa genau auf der Höhe meiner Brüste befanden. Ich mochte ja vielleicht eine kleine Frau sein, aber er war auch ein Riesenhund. Eine Sekunde zog ich in Erwägung, mich auf seinen Rücken zu schwingen und auf ihm zu
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