Jasmin - Roman
Raschel Chizkel verlassen hatte. Die Schuldgefühle hatten ihn all diese Jahre nicht losgelassen, und auch jetzt senkte er den Blick vor seinem Bruder. Das Wissen, dass sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut, seinen Bruder endlich befreit hatte, hätte es ihm leichter gemacht und ihm gut getan.
Aber er war in den Vorschriften des Mossad gefangen. Chizkel, sein Vater, seine Mutter und Nuri befanden sich alle hier vor seinen Augen, und sein Herz lief über - doch seine Lippen blieben versiegelt.
31.
»DU KAMST ANDERTHALB MINUTEN ZU SPÄT«
»Schalom, Nuri, richtig, ich bin’s. Danke, alles in Ordnung. Ich habe gehört, dass Sie mich im al-Hurrije gesucht haben. Ja, ja, ich bin nicht mehr in Klausur. Sicher, ich würde mich freuen, mit Ihnen heute Abend einen Kaffee zu trinken. Nein, nicht im al-Hurrije. Es ist geschlossen, sie renovieren ein bisschen, vielleicht treffen wir uns im Hotel Imperial. Wissen Sie, wo das ist? Gut, dann sehen wir uns um sieben.«
Das sagte Jasmin am Telefon, und mein Herz tauchte aus der Trostlosigkeit auf. Ich beeilte mich, einige dringende Angelegenheiten zu erledigen, zog mich warm an und machte mich auf den Weg zum Imperial. Draußen heulte der Wind in der Finsternis. Um Viertel vor sieben saß ich schon dort. Ich wollte sie nicht warten lassen.
Ich betrachtete die alten Bilder, die an den Wänden hingen. Sie erzählten ein wenig von dem traditionsreichen Hotel und dessen zahlreichen bedeutenden Gästen. Zehn nach sieben. Jasmin kam normalerweise nicht zu spät. Ich erinnerte mich an ein Lied von Abd al-Wahab: »Du kamst anderthalb Minuten zu spät, und nicht eine Minute …« Ich bestellte ein Bier. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf den Eingang, ein junges Touristenpärchen kam herein, plapperte laut Französisch. Zwanzig nach sieben. Was war los mit ihr? Vielleicht hatte sie der Regen aufgehalten, oder hatte sie keinen Parkplatz gefunden? Ich trank den letzten Schluck Bier und versuchte, das hastige Telefongespräch zu rekonstruieren - vielleicht hatten wir acht Uhr ausgemacht und nicht sieben. Ich bat den Ober um eine Zeitung, um mir die Zeit zu vertreiben.
Die Wanduhr zeigte fünf nach halb acht. Ich begann mir Sorgen zu machen, ihr war doch hoffentlich nichts passiert? Das französische Pärchen lachte lauthals. Lästig. Zum Teufel, warum kam sie denn nicht?
Und warum rief sie nicht im Hotel an, hinterließ eine Nachricht? Ich musterte die Halle, es gab hier keine Theke, das Telefon befand sich am Empfang. Man würde dich rufen, beruhige dich, sagte ich mir, ging aber dennoch hinunter und bat, man möge mich sofort benachrichtigen, falls ich einen Anruf erhielte. Vielleicht hatte sie es bereut, sich hier verabredet zu haben. Ein Treffen in einem Hotel hatte eine gewisse Bedeutung, sogar in den Augen eines jüdischen Mädchens, um wie viel mehr also bei ihnen. Jemand könnte sie sehen, der Hotelbesitzer war sicher mit ihrem Vater bekannt.
Fünf vor acht. Das war wirklich beleidigend. Musste ich eine Stunde auf sie warten? Ich bestellte noch ein Bier. Ich wäre gerne auf die Toilette gegangen, doch ich blieb auf meinem Platz, vielleicht würde sie gerade dann kommen, wenn ich weg wäre. Um zehn nach acht stand ich entschlossen auf und ging auf die Toilette. Und als ich hinausging, warf ich einen letzten Blick in die Halle. Genug.
Draußen hagelte es wie verrückt, kleine weiße Bällchen häuften sich am Straßenrand. Ich fuhr langsam, um nicht ins Rutschen zu kommen, zu meinem Appartement zurück. Jasmins Gesicht tanzte vor meinen Augen, die sinnlichen halbmondförmigen Lippen, die Augen, die alles sahen. Bereits in der flüchtigen Sekunde, in der ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich jedes Wimpernzucken von ihr vererinnerlicht und eine vibrierende Nähe empfunden, den Wunsch, sie kennenzulernen, ihre Stimme zu hören, zu hören, wie sie den Rauch ihrer Zigarette einsog. Ich war von ihr besessen. War das diese Liebe auf den ersten Blick, vor der man sich nicht schützen konnte? Jeder Mensch ist von einer Aura umgeben, von einer kleinen Sonne. Diese Sonne blendet, erzeugt
süße Illusion, Faszination. Wenn sich zwei Sonnen begegnen, geschieht es, dass man sich verliebt. Lag in ihrer Aura eine Antwort auf meine geheimsten Sehnsüchte? Und wohin würde das führen?
Und was würde Abu George sagen, wenn sich eine Beziehung zwischen uns entwickelte? Würde er denken, ich benutzte seine Tochter? Ich begab mich auf vermintes Terrain. Ein falscher Schritt, und alles
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