Jasmin - Roman
zurück.«
»Papa, bring mich nach Hause«, bat Jasmin.
13.
DER KONFEKTIONSANZUG
Jasmin schwieg gedankenverloren. Abu George wollte sie nicht stören und tat so, als konzentrierte er sich aufs Fahren. Sie betrachtete ihn und lächelte traurig. Ein feiner Mann, ihr Vater. Vielleicht zu zartfühlend. Was war los mit ihm in letzter Zeit? Das war nicht mehr der selbstsichere Mann, den sie gekannt hatte. Schon in den Kriegstagen hatte er am Telefon mit heiserer, gebrochener Stimme gesprochen, als würgte ein böses Tier seinen Hals. War das der Grund, weshalb er sich so verhielt, als hätte er seinen Glauben an die gerechte palästinensische Sache, an das Potenzial seines Volkes verloren? War das der Grund, weshalb er anfing, sich der Wirklichkeit anzupassen, statt sich gegen sie aufzulehnen? Ihr Magen revoltierte. Vielleicht war auch sie krank, vielleicht protestierte ihr Körper gegen die Realität, die ihr aufgezwungen wurde. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie diese Wirklichkeit nicht erfassen, und sie versuchte, sich diese seltsame Welt zu erklären, in die sie nach ihrer Rückkehr aus Paris geraten war.
Der Erste, der immer wieder in ihrem Bewusstsein auftauchte, war aus irgendeinem Grund dieser jüdische Regierungsangestellte. Wer war dieser Nuri denn? Ein junger Mann mit schlechtem Haarschnitt, in einem sichtlich neuen Konfektionsanzug, der schon verknittert war, mit einer billigen, nachlässig gebundenen Krawatte und dicken Koteletten, die wohl modisch sein sollten. Ihr Vater bezeichnete ihn als al-Wasta, der Verbindungsmann, der Vermittler. In ihren Augen war er ein Zuhälter, der zur Kollaboration verleiten sollte. War er tatsächlich der einflussreiche Berater eines Ministers? Und wer war dieser Minister, von
dem Nuri Amari seine Macht bezog? Und weshalb bemühte er sich so um ihren Vater?
Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich in der Gesellschaft von Israelis aufgehalten hatte. Seit ihrer Ankunft hatte sie sie nur von weitem gesehen, wie sie wie emsige Ameisenkolonnen über ihre Stadt ausschwärmten, ihre Steine zernagten. Sie machten auf sie den Eindruck armseliger Besatzer, denen jede Würde, jedes Feingefühl fehlte: der Soldat mit den rohen Fingern, der ihre Unterwäsche durchwühlt hatte, der Wächter im Jugenddorf, der entstelltes Hebräisch mit fremdem Akzent sprach, der trockene, enervierende Direktor und Doktor Michelle, die kürzlich importierte Französin, waren das die neuen Herren? Waren sie die Enteigner, die ihr Leben und das ihres Vaters aus dem Gleichgewicht brachten?
Und warum hatte es Doktor Michelle so eilig, sie »unsere neue Praktikantin« zu nennen, während sie sich noch fragte, was sie dort überhaupt machte. Und dieser Direktor, wie kam er dazu, sie mit Fragen zu bombardieren, als sei sie gekommen, um von ihm etwas zu erbitten? Sie wäre fast gegangen, war nur geblieben, weil ihr Vater von seinem Reizhusten überfallen worden war und sie ihm keinen Kummer bereiten wollte. Wie schmerzlich es war, mit anzusehen, wie sein verzweifelter Blick an dem jüdischen Beamten hing, was für eine Schande.
Die Blicke der Anwesenden während der bohrenden Fragen des Direktors erinnerten sie an die spöttischen Blicke, die die Kinder im YMCA auf sie geworfen hatten. Es war in einer ihrer ersten Hebräischstunden, als sie versuchte, das Wort »po’al« mit hartem P auszusprechen, ein neuer Laut für sie, der im Arabischen nicht existierte und immer wieder als »bo’al« herauskam. Es war im Grunde lächerlich, doch es war nicht angenehm, von oben herab betrachtet zu werden.
Michelle hatte anscheinend Sympathie für sie empfunden und sich beeilt, ihr zu schmeicheln. Ein merkwürdiger Typ, diese Michelle, und eine merkwürdige Begegnung. Was machte eine französische
Psychologin, von der gleichen Universität, an der auch sie studierte, ausgerechnet in dem kleinen Jugenddorf in Jerusalem, dem sie einen Besuch abstattete?
Aber noch merkwürdiger war der Umgang ihres Vaters mit dem jüdischen Beamten. Traf sich mit ihm, fuhr mit ihm spazieren, nahm ihn sogar zum Haus der Hilmis mit und offenbarte vor ihm den schrecklichen Schmerz über den Verlust ihres Hauses. O heilige Jungfrau, wie ihr Herz geklopft hatte, als sie dort ankamen, wie sehr sie sich davor gefürchtet hatte, ihr Haus zu sehen, wie ein heraufbeschworenes Gespenst. Ihr Vater hatte geseufzt, sein Gesicht hatte sich mit Röte überzogen, war düster und dann grau geworden, ließ sie an Tumorkranke, an offene Wunden denken.
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