Jasmin - Roman
Fremder wird das nie verstehen«, sagte sie, »meine Welt wurde an jenem Abend zerstört. Ich weinte und weinte …«
»Auch mein Vater und ich waren völlig betäubt«, sagte ich, überrascht von ihrer plötzlichen Weichheit.
»Was ist schiefgegangen?«, sagte sie bitter. »Nasser selbst hat die Niederlage verkündet, die arabische Einheit entweiht, der Führer, der unsere Größe bewirkte, stellt sich hin und gesteht die Niederlage ein! Was ist falsch gelaufen? Wer hat sich geirrt? Wer Verrat begangen? Ich habe die Bilder gesehen: Leute haben ihre Kleider zerrissen, sich die Haare gerauft, geweint und sich selbst geschlagen, bis das Blut floss, wie die Schiiten an Aschura, an ihrem Fast- und Trauertag. Alles stürzte ein wie eine Sandburg.« Sie schwieg einen Moment. »Alles ausgelöscht, die Hoffnung, die Ehre. Ich konnte nicht zu Hause bleiben, ich ging durch die Straßen, ging und ging, tausende Kilometer von meinem Volk entfernt, blind in einer fremden Stadt …« Ich schenkte ihr ein Glas Wasser ein. Sie strich mit den Fingern über Nassers Bild auf dem Umschlag des Neuer Osten , trank und schwieg.
Ich saß gebückt da, zu ihr gebeugt. Unsere Blicke kreuzten sich.
»Jasmin, vielleicht können Sie mir erklären, wie es kommt, dass nach Nassers Abdankung Millionen auf die Straße gingen und ihn aufriefen, wieder zurückzukommen. Ein Führer im Westen hätte nach einer solchen Niederlage nicht bleiben können. Sogar Churchill, der große Sieger des Zweiten Weltkriegs, wurde in der Wahl danach nicht wiedergewählt, man zog einen anderen Führer für Friedenszeiten vor. Auch unser Ben Gurion, der den Staat gegründet hat, wurde von seinen Kameraden abserviert, als sie dachten, dass er sich geirrt hatte. Und bei Nasser, der Großes versprochen, aber nur Unglück über sein Volk und die gesamte arabische Welt gebracht hat?«
Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Er hat uns unsere Ehre zurückgegeben, unsere Größe aufgerichtet, er war der große Vater. Wir werfen unsere Vatergestalten nicht den Hunden vor wie im Westen.«
»Erinnern Sie sich an den Schluss von Nassers Rede?«, fragte
ich, und wie von selbst strömten die Sätze aus meinem Mund: »Mein Herz ist ganz und gar mit euch … und ich will, dass eure Herzen ganz und gar mit mir sind … und möge Allah mit uns sein, Hoffnung in unsere Herzen pflanzen, uns Licht und Weisung schenken …«
»Licht und Weisung …«, murmelte Jasmin und versank in einer Welt, an der ich keinen Anteil hatte. Ihre Haar schlang sich lose um den glatten, gespannten Hals, und ihr längliches Gesicht war in seiner ganzen Schönheit erstarrt. Plötzlich erwachte sie wieder zum Leben: »Sie können die Rede auswendig! Und Ihre Aussprache, als Sie sie zitiert haben, echt ägyptisch! Sagen Sie, trainiert man euch so in der Spionageschule?«
»Diese Rede ist ein Musterexemplar«, erklärte ich.
Ihre türkisfarbenen Augen musterten mich, und für einen winzigen Augenblick wurden sie weicher, ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und in diesem Moment, in jenem flüchtigen Lidschlag, war die Welt voller Möglichkeiten und ungezählter, blühender Hoffnungen.
Sie neigte sich zu mir, als verrate sie mir ein Geheimnis. »Ein Musterexemplar, sagen Sie? Und ich sage, ein Stück Leben! Die Gelehrten im Westen, und ihr genauso, verstehen nichts von der Seele des arabischen Menschen, ihr zerlegt uns, als seien wir eine Leiche auf dem Seziertisch und keine lebendige Seele«, seufzte sie.
»Sie haben recht. Das sagt auch Kabi, mein älterer Bruder, immer. Er behauptet, dass diese ganzen Gelehrten von der Universität, die so wichtig erscheinen, nicht einmal ein Glas Tee auf Arabisch bestellen können, wie es sich gehört. Sie sind aus der Schule des Westens und seiner Kultur, kennen das Leben der Araber nicht und sind unfähig zu begreifen, was in ihnen vor sich geht.«
»Ihr werdet niemals unsere Frustration verstehen, die Verletzung der Ehre, die Beleidigung, die Notwendigkeit von Errungenschaften, Anerkennung und auch das Bedürfnis nach Rache«, sagte sie und machte dem Kellner ein Zeichen, er solle Wasser bringen.
»Weshalb Rache? Wir sind gebildete, aufgeklärte junge Menschen, wir sollten das Leben genießen, lieben, Kinder großziehen und tanzen, singen, nicht sterben und uns rächen.«
Wir sahen einander an. Sie wurde rot. Ich senkte meinen Blick auf die Melone, die der Kellner gebracht hatte und die noch unberührt vor mir stand. Ich bedeutete ihr, sich ein
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