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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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Briefe und mindestens fünf oder sechs Päckchen war, allesamt an ihn adressiert. Er griff hinter den Haufen und zog ein Buch hervor, das an der Wand lehnte. Es war ein Buch von Goebbels mit dem Titel Die Zeit ohne Beispiel . Es gehörte der achtunddreißig Jahre alten, unverheirateten Tochter der Familie, die bis vor wenigen Wochen in dem Haus gewohnt hatte. Sie war eine kleine Funktionärin in der Nazi - Partei gewesen, aber im Sinne der Armeestatuten groß genug, um in die Kategorie »automatische Verhaftung« zu fallen. X selbst hatte sie verhaftet. Zum dritten Mal nun seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus an jenem Tag schlug er das Buch der Frau auf und las die kurze Eintragung auf dem Vorsatzblatt. Mit Tinte geschrieben, standen da auf Deutsch, in einer kleinen, hoffnungslos ehrlichen Handschrift, die Worte »Lieber Gott, das Leben ist die Hölle«. Nichts führte dazu hin oder davon weg. Allein auf dem Blatt und in der blässlichen Stille des Raums schienen die Wörter das Format einer unanfechtbaren, ja klassischen Anklage zu besitzen. X starrte mehrere Minuten lang auf das Blatt, versuchte, mit sehr geringen Aussichten, nicht davon beeindruckt zu sein. Dann nahm er sehr viel eifriger, als er seit Wochen etwas getan hatte, einen Bleistiftstummel und schrieb auf Englisch unter die Eintragung: »Ihr Väter und Lehrer, was ist die Hölle? Ich denke, sie ist der Schmerz darüber, dass man nicht mehr zu lieben vermag .«
    E r wollte schon Dostojewskis Namen daruntersetzen, sah dann aber – mit einem Schrecken, der ihm durch den ganzen Körper fuhr dass das Geschriebene fast völlig unleserlich war. Er schloss das Buch.
    Rasch nahm er etwas anderes vom Tisch, einen Brief von seinem älteren Bruder in Albany. Er hatte schon auf d em Tisch gelegen, bevor er ins Krankenhaus gegangen war. Er öffnete den Umschlag, halbwegs entschlossen, den Brief ganz durchzulesen, las aber nur die obere Hälfte der ersten Seite. Er brach ab nach den Wörtern: »Nachdem der verd. Krieg nun vorbei ist und Du da drüben wahrscheinlich jede Menge Zeit hast, wie wäre es, wenn Du den Kindern ein paar Bajonette oder Hakenkreuze schicktest … «
    N achdem er den Brief zerrissen hatte, blickte er auf die Fetzen, die im Papierkorb lagen. Er sah, dass er einen beigelegten Schnappschuss übersehen hatte. Er konnte erkennen, dass irgendwelche Füße auf irgendeinem Rasen standen.
    Er legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Von Kopf bis Fuß tat ihm alles weh, alle Schmerzzonen schienen zusammenzuhängen. Er war fast wie ein Weihnachtsbaum, dessen Lichter, seriell verdrahtet, alle ausgehen müssen, wenn auch nur ein Birnchen kaputt ist.
     
    Die Tür wurde aufgerissen, ohne dass angeklopft worden wäre. X hob den Kopf, drehte ihn und sah Corporal Z in der Tür stehen. Corporal Z war vom D - Day an auf fünf Feldzügen hintereinander Xs Jeep - Partner gewesen. Er wohnte im Erdgeschoss und besuchte X meistens, wenn er Gerüchte oder Gemecker loswerden musste. Er war ein riesiger, fotogener junger Mann von vierundzwanzig Jahren. Während des Krieges hatte ihn eine überregionale Zeitschrift im Hürtgenwald fotografiert; es war mehr als entgegenkommend, dass er mit einem Thanksgiving - Truthahn in jeder Hand posiert hatte. »Schreibste Briefe?«, fragte er X. »Ist ja gruslig hier, Herrgott .« E s war ihm immer lieber, wenn in einem Zimmer, das er betrat, das Deckenlicht brannte.
    X drehte sich auf seinem Stuhl herum und bat ihn , hereinzukommen und dabei nicht auf den Hund zu treten.
    »Den was?«
    »Alvin. Er ist direkt vor deinen Füßen, Clay. Wie wär’s, wenn du mal das verdammte Licht anmachst?«
    Clay fand den Deckenlichtschalter, drückte ihn, trat dann durch den mickrigen, dienstmädchenzimmergroßen Raum und setzte sich auf die Bettkante, den Blick auf seinem Gastgeber. Seine ziegelroten, frisch gekämmten Haare tropften von dem Wasser, das er für eine befriedigende Pflege benötigte. Ein Kamm mit Füllerclip ragte wie gewohnt aus der rechten Tasche seines olivgrünen Hemds. Uber der linken Tasche trug er die Kampfspange der Infanteristen (die er streng genommen gar nicht tragen durfte), das Band für den Einsatz in Europa mit fünf bronzenen Sternen (statt eines einzelnen silbernen, dem Äquivalent von fünf bronzenen) und das Einsatz - Band aus der Zeit vor Pearl Harbor. Er seufzte tief und sagte: »Großer Gott .«
    E s hatte nichts zu bedeuten: Armee eben. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche, tippte

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