Jeier, Thomas
indianischer Vorstellung gab es Menschen mit übernatürlichen Kräften, die in direkter Verbindung mit der Geisterwelt standen. Ein Mann oder eine Frau mussten die Gabe haben, sich in kontrollierte Ekstase zu versetzen, um mit den Geistern in Kontakt treten zu können, um das Volk vor Unglück zu bewahren. Mit dem Ausdruck »Schamane« hob man die spirituellen Fähigkeiten eines solchen Menschen hervor, während die Bezeichnung »Medizinmann« oder »Medizinfrau« auf heilende Fähigkeiten verwies. Sie galten als spirituelle Führer, hatten Heilkräfte, gaben Geschichten, Traditionen und Rituale weiter. Ihnen galt der besondere Respekt der Gemeinschaft.
Bei zahlreichen Völkern gab ein Schamane sein Wissen weiter; aber auch ein Traum oder eine Vision konnte offenbaren, dass jemand die notwendigen Fähigkeiten besaß. Das geheime Wissen von Schamanen und Medizinleuten war also erlernbar, erforderte allerdings eine lange und entbehrungsreiche Ausbildung. Am Anfang jeder Berufung stand eine Reise ins Geisterreich. Der angehende Schamane erlebte sie entweder ganz unvermittelt, indem er krank wurde, am Rand des Todes stand, während hohen Fiebers in Trance geriet, oder aber er folgte den Anweisungen seines Lehrmeisters und bereitete sich durch langes Fasten darauf vor. Halluzinogene spielten in den nordamerikanischen Indianerkulturen eine eher untergeordnete Rolle.
Die Aufgaben des Schamanen waren vielfältig. Als geistiger Führer eines Volkes oder Stammes sorgte er für ein gutes Verhältnis zur Geisterwelt. Er unternahm regelmäßig Reisen in die andere Wirklichkeit und sprach mit den geheimnisvollen Wesen, die das Schicksal der Menschen bestimmten. Er beschwor sie und versuchte durch Opfer, Gesänge und Tänze ihr Wohlwollen zu gewinnen.
Als Heiler kümmerte sich ein Schamane um die physische Gesundheit der Menschen, die genauso wie die politische Lage und alle anderen Dinge von den guten und bösen Geistern kontrolliert wurden. Sein Rat konnte Entscheidungen über Krieg und Frieden beeinflussen. Er bat die Geister um eine gute Jagd, tanzte und betete für eine gute Ernte, und hielt immer dann Zwiesprache mit der anderen Wirklichkeit, wenn das eigene Volk von Sorgen oder Problemen geplagt war. Als Seher und Visionär blickte ein Schamane in die Zukunft, er zeigte Perspektiven auf und geleitete den Stamm in ein sicheres Morgen. Als Dichter und Sänger sorgte er bei manchen Stämmen für Unterhaltung, er erzählte Geschichten aus der Vergangenheit des Volkes, war Zeremonienmeister bei ausgelassenen Festen und sorgte für Kurzweil und Ablenkung.
Die Fähigkeit, mit den Geistern zu kommunizieren und über Leben und Tod zu entscheiden, verhalf den Schamanen zu einer besonderen Stellung und Bedeutung innerhalb ihres Volkes. Keine andere Gruppe, nicht einmal die Anführer, wurden so respektiert oder gefürchtet. Sie lebten nach ihren eigenen Regeln und wussten, dass das eigene Volk ohne ihre Hilfe dem Untergang geweiht war. War ein Schamane allerdings erfolglos, konnte er von seinem Volk auch verstoßen oder gar getötet werden.
Der wohl bekannteste Schamane oder Medizinmann war Tatanka Yotanka alias Sitting Bull. Der spirituelle Führer der Hunkpapa-Sioux hatte seinen Mut beim Pferdestehlen und in zahlreichen Kämpfen bewiesen. In späteren Jahren überließ er das Schlachtfeld aber fähigen Strategen wie Crazy Horse und blieb bei den Schlachten am Rosebud oder Little Bighorn im Hintergrund und betete zu Wakan tanka. Er verfügte über das Wissen und die Kraft mit dem Großen Geist in Verbindung zu treten. Nachdem er über hundert Fleischfetzen aus seinen Armen geschnitten und bis zur Bewusstlosigkeit getanzt hatte, sagte er den Sieg der Indianer am Little Bighorn voraus. In einer Vision sah er tote Soldaten vom Himmel fallen. Er war für sein Charisma bekannt, das viele beeindruckte und ihm Einfluss verlieh. Nicht zuletzt deshalb wurde er am 15. Dezember 1890 von Stammespolizisten — Angehörigen seines eigenen Stammes -- getötet.
Suche nach einer Vision
Die »Vision quest«, die Suche nach einer Vision, gehörte zu den wichtigsten Ritualen in indianischen Gesellschaften. jeder Krieger, der vor einer bedeutsamen Entscheidung oder Aufgabe stand, »rief nach einer Vision.« Sie spendete ihm Kraft, in ihr verband er sich mit den übernatürlichen Kräften. Zu einer Vision konnte man auf verschiedenen Wegen gelangen: durch Gebete und Lieder, durch Träume oder Visionen eines anderen Kriegers oder eines Schamanen,
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