Jemand Anders
heiserer noch als sonst.
„Aus dem Archiv natürlich. Aus deinem Archiv.“ Fidelis legt eine Pause ein, ehe er fortsetzt. „Mir war, als hätte ich diese Schrift schon einmal wo gesehen. Was meinst du?“
Der Alte blickt starr an die Decke. Er scheint weit fort zu sein, in einer anderen Wirklichkeit.
Endlich wendet er das Gesicht wieder Fidelis zu. Nein, es sind nur die Augäpfel, die zur Seite rollen, der Kopf bleibt unverrückt in seiner Position. Als hätte ihn jemand auf dem Polster festgezurrt mit unsichtbaren Bändern.
„Das ist alles viel zu lange her ...“
„Aber du erkennst die Handschrift – richtig?“
Pater Xaver nickt kaum merklich.
„Möchtest darüber reden?“
Kopfschütteln.
„Warum nicht, Bruder? Was ist so schwer daran?“
Schweigen.
„Hat es mit dem zu tun, was im März und April achtunddreißig in diesem Haus passiert ist?“
Die Unterlippe Pater Xavers beginnt zu zucken.
„Heißt das ja?“
Wieder keine Antwort. Stattdessen ein leises Quietschen von hinten.
Fidelis dreht sich um die eigene Achse: Ein Schatten steht in der offenen Tür. Der Rektor.
„Wie ich sehe, erkundigt man sich nach dem Befinden unseres Patienten. Ein schöner Zug von dir, Bruder Fidelis.“
Fidelis nickt wortlos und versucht, mit der Kutte die Zettel zu verdecken. Xaver richtet sich mühsam auf und versichert, er sei bereits auf dem Weg der Besserung.
„Ich brauche nur ein bisschen Ruhe, dann wird’s schon wieder.“
„Na, dann wollen wir ihm die doch gönnen, nicht wahr!“, lächelt der Rektor. „Ich wünsche einen erholsamen Schlaf.“ Leise zieht er die Tür hinter sich zu.
Es ist still in der Kammer. Pater Xaver hat die Augen geschlossen. Auf seiner hohen weißen Stirn glänzen ein paar Schweißperlen.
„Gute Nacht.“ Beinahe tonlos kommen die Worte über die dünnen Lippen, aber Fidelis versteht die Botschaft.
„Ja dann, gute Nacht.“
Er packt die Blätter wieder in die Mappe und schlägt ein Kreuz über dem Kranken. Morgen ist auch noch ein Tag.
Ohne Licht anzumachen, kehrt er in seine Kammer zurück. Es liegt nicht am Vollmond, dass er keinen Schlaf findet. Ob der Rektor die Blätter auf Xavers Leintuch gesehen hat? Und falls ja: Was hat er sich wohl dabei gedacht?
*
Der April bringt immer die größten Strapazen während des Schuljahrs, nicht nur für die Buben. Schularbeiten und Tests wollen vorbereitet, Vokabeln gepaukt werden, und Fidelis ist für jedermann der wichtigste Ansprechpartner, wenn es um Unterstützung beim Lernen geht. Geduldig kontrolliert er die Hausaufgaben, hilft, wo nötig, gibt gute Tipps und spendet Lob, nicht nur den Klügsten. Bisweilen muss er auch noch bei den Gruppen der anderen Präfekten aushelfen, die, allen voran Pater Klaus, lieber auf Strafaufgaben setzen, anstatt den Stoff verständlich zu erklären. Oder jene Lehrer, die es als unter ihrer Würde betrachten, etwas in einfachen Worten auszudrücken. Was die Herren Professoren vormittags versäumen, versucht Fidelis am Nachmittag und Abend auszubügeln. So bleibt wenig Zeit für Lektüre und Bibliotheksdienst, und die Arbeit im Archiv muss zur Gänze ruhen.
Anfang Mai kommt es zu einem Zwischenfall, den sich kein Erzieher wünscht. Bei einer unangemeldeten Visite im Schlafsaal der Viertklässler überrascht Fidelis zwei Buben am helllichten Tag beim gemeinsamen Onanieren. Die beiden waren wohl der Annahme, alle Patres würden draußen beim Fußballturnier der Oberstufler zusehen. Fidelis hat auf solch leisen Sohlen den Raum betreten, dass sie nicht einmal dazu kommen, rechtzeitig ihre Hosen hochzuziehen. Halbnackt und verschwitzt krabbeln sie aus dem Bett und versuchen krampfhaft, ihre Blößen zu bedecken. Mit hängenden Köpfen stehen sie vor ihm. Er möchte die Sache nicht hochspielen, es bei einer einfachen Ermahnung belassen. Andererseits klingt ihm die Anweisung des Rektors im Ohr: Fornicatio maxima gravitate castiganda est! Jede Form von Unzucht sei mit voller Härte zu bestrafen. Aber ab wann wird aus pubertärer Neugier Unzucht? Handelt es sich beim Vergehen dieser Vierzehnjährigen nicht eher um masturbationem als um fornicationem ?
Fidelis hält es für das Klügste, erst einmal Zeit zu gewinnen.
„Zieht euch an. Und am Samstag um Punkt fünfzehn Uhr auf meinem Zimmer! Dann werde ich euch sagen, wie’s weitergeht.“
Es ist unnatürlich warm geworden. Die Natur scheint sich nicht lange mit dem Frühling herumschlagen zu wollen, mitten im Mai herrschen Temperaturen wie
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