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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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sonst im Hochsommer. Alle Freizeitaktivitäten spielen sich im Park ab. Auch Pater Xaver dreht nun wieder seine Runden auf den Kieswegen, nach eigenen Worten fühlt er sich so gut, wie man sich als Achtzigjähriger nur fühlen kann. Fidelis begegnet ihm auf der Höhe des alten Schwimmbeckens, von dessen Wänden die Farbe fast vollständig abgeblättert ist. Nur im Winter wird das Becken noch zum Eishockeyspielen genutzt.
    Eine Weile gehen sie schweigend nebeneinander her. Fidelis überlegt, ob er den Bruder um Rat bitten soll, was die Sache mit den beiden Buben angeht, die morgen zum Rapport erscheinen werden. Aber er lässt die Idee schnell wieder fahren. Allzu absehbar, wofür der alte Mann sich aussprechen würde.
    „Und? Geht die Arbeit im Archiv voran?“
    Sie haben seit jener Märznacht in Xavers Kammer nicht mehr davon gesprochen. Umso überraschter ist Fidelis, dass der andere von sich aus das Thema aufs Tapet bringt.
    „Danke der Nachfrage“, sagt er. „Ich denke, jetzt, wo die jungen Pferdchen jeden Tag hinaus auf die Koppel dürfen und es auch in der Schule gemütlicher hergeht, werde ich langsam wieder mehr Zeit dafür aufbringen können.“
    „Schön“, murmelt der Greis. „Ausgezeichnet. Du musst wissen, das Archiv ist mir sehr ans Herz gewachsen. Ist immer mein Lieblingskind gewesen.“
    „Ja“, nickt Fidelis. „Das kann ich gut nachvollziehen. Das Unzusammenhängende, Zerspragelte in eine gewisse Ordnung bringen – das brauchen wir doch alle, nicht wahr?“
    Er merkt, wie der andere einen prüfenden Blick auf ihn wirft. Die Rotkehlchen zwitschern in den Büschen, dass es eine helle Freude ist, und an der Kiefer neben dem Faustballplatz tobt sich ein Specht aus.
    „Was willst du damit sagen?“
    „Was sollte ich denn damit sagen wollen?“
    Der andere antwortet nicht, und Fidelis verzichtet darauf nachzubohren. Darin sind wir Experten, denkt er. Schweigen und verschweigen. Keiner beherrscht das besser als wir.
    Pater Xaver klappt demonstrativ sein Gebetsbuch auf.
    „Nun denn. Falls du Hilfe benötigst beim Inventarisieren, weißt du ja, wo du mich findest.“
    „Danke.“
    Ihre Wege trennen sich. Vertieft in sein Brevier entfernt sich der Alte.
    Fidelis blickt ihm nach, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden ist. Ich darf ihn nicht drängen, sagt er sich, jedem sein eigener Rhythmus. Die Wahrheit lässt sich so und so nicht erzwingen.
    *
    Um Viertel vor drei klopft es an seiner Tür. Hat er nicht Punkt fünfzehn Uhr gesagt? Und er hat sich noch immer nicht entschieden. Soll er ihnen ordentlich den Kopf waschen oder doch besser Verständnis zeigen für die Nöte Pubertierender? Am besten, er macht es einfach von ihrem Auftreten abhängig. Sie hatten ja wohl genügend Zeit, sich das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen ...
    „Herein!“
    Aber es sind gar nicht die beiden Viertklässler, die er zu sich bestellt hat. Die kreisrunde Glatze Pater Rektors schimmert im Gegenlicht, als er über die Schwelle tritt.
    „Du erlaubst?“
    Fidelis springt von seinem Stuhl auf. „Welch eine Überraschung!“, ruft er. „Darf ich Ihnen einen Tee machen?“
    Die Mundwinkel des Rektors wandern leicht nach oben.
    „Lass nur, Bruder, ich will nicht lange stören. Da draußen“ – er deutet mit dem Daumen in Richtung Gang – „warten ja schon die nächsten Besucher.“
    „Nicht so wichtig“, winkt Fidelis ab.
    „Doch, doch, Bruder. Ich weiß, wie ernst du deine seelsorgerischen Pflichten nimmst. Was haben denn die zwei Lausbuben angestellt? Nein, ich will es gar nicht wissen. Du bist ihr Präfekt. Aber dass du mir nur nicht wieder zu milde bist!“ Mahnend hebt er den Zeigefinger. Dessen Verlängerung zielt direkt auf den Schmerzensmann am Kruzifix.
    Fidelis nötigt sich ein Lächeln ab. Und während sich der Rektor ächzend auf dem eilig hingerückten Stuhl niederlässt, fragt sich Fidelis, was dieser Besuch bedeutet. Denn so viel steht fest: Spontan erfolgte der nie und nimmer.
    Aber der Ältere denkt gar nicht daran, die Katze so schnell aus dem Sack zu lassen.
    „Interessant?“, fragt er und deutet mit seinem Doppelkinn auf das Buch, das aufgeschlagen vor Fidelis liegt.
    „Sehr.“
    „Hm.“ Aus dem Tonfall des Rektors ist keine Wertung herauszuhören.
    „Sie ... lesen auch Karl Rahner, Pater Rektor?“
    „Freilich. Man muss sich doch mit den Geistesgrößen seiner Tage auseinandersetzen. Was nicht heißt, dass man mit ihnen in jedem Punkt übereinstimmt, nicht

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