Jemand Anders
wahr?“
„Natürlich nicht.“
„Insbesondere bei den Jesuiten gilt es immer ein bisschen auf der Hut zu sein. Die haben einen gewissen Hang zur ... wie soll ich sagen ...“
„Zur Spekulation?“
„In der Tat. Ich hätte es nicht schöner ausdrücken können.“ Er strahlt übers ganze Gesicht. „Gerade diese Neuscholastiker ... Waren mir schon immer ein bisschen zu anthropologisch, um nicht zu sagen anthropozentrisch. Wobei man ihren Einfluss auf Rom nicht unterschätzen sollte. Darf ich?“
Noch ehe Fidelis antworten kann, greift der Rektor nach dem Buch.
„ Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance . Aha, Rahners neuestes Opus, wie es scheint. Als Aufgabe und Chance. Wieder so ein typischer Jesuitentitel.“
Während er den Klappentext überfliegt, stellt er jene Frage, vor der sich Fidelis schon gefürchtet hat.
„Und, wie findest du es?“
„Schwer zu sagen, ich bin erst bei Seite fünfzig. Und Sie, haben Sie es bereits gelesen?“
„Nicht dieses, nein. Aber wenn du einen Rahner kennst, kennst du alle. Stimmt’s oder habe ich recht?“
Fidelis lächelt pflichtbewusst.
„Da kann ich schwerlich mitreden. Für mich ist es mein erster.“
Pater Rektor kratzt sich nachdenklich am faltigen Hals. Wie er sich so zurücklehnt dabei, erinnert er Fidelis an einen Truthahn.
„Wenn ich ganz offen sein soll: Mir ist in seiner Theologie zu viel vom Menschen und zu wenig von unserem Herrn die Rede. Gnade, Gnade, auf jeder Seite nichts als Gnade! Und er stellt viel zu viele Fragen. Ist das die Aufgabe der Theologie? Ich sage entschieden: nein. Wer gar zu viel hinterfragt, glaubt am Ende nichts mehr, auch nicht an die Offenbarung. Weisheit, Fidelis, die gute alte Sophia, sollte man nicht mit Sophismus verwechseln! Schuster, bleib bei deinem Leisten. Überlassen wir doch das Spekulieren den Philosophen und konzentrieren wir uns lieber darauf, wofür wir recht eigentlich zuständig sind.“
„Und das wäre?“
„Eine seltsame Frage, lieber Bruder! Das versteht sich doch von selbst: Die Schafe im Sinne des Guten Hirten zu hüten, sie sicher zu geleiten, auf dass keines sich verirren möge in dunkler Nacht. Und sei dir bewusst: Die Zeiten werden immer finsterer. Die Orientierungslosigkeit wächst. Da müssen zumindest wir klare Wegweiser sein. Gerade die Jugend verlangt danach, wer das nicht wahrhaben will, lügt sich in die eigene Tasche. Nichts ist wichtiger als ein Reibebaum, an dem man sich die Krallen schärfen kann für den Lebenskampf. Was ist anzufangen mit Schulen wie Summerhill, dieses englische Internat, wo die Jungen tun und lassen können, was sie wollen? Von wegen antiautoritäre Erziehung! Die Menschen sehnen sich doch nach Autorität! Wie soll der Charakter geformt werden, wenn wir keinen festen Model dafür verwenden? Rahners verwaschenes Geschwätz von der unumstößlichen Gnade Gottes, durch die sich der Herr angeblich erst dem Menschen mitteile – ich halte es nicht nur für theologisch zweifelhaft, sondern für nachgerade gefährlich! Wir müssen neue Dämme errichten, nicht mithelfen beim Niederreißen der alten. Anthropologische Wende, Strukturwandel in der Kirche – wenn ich das schon höre!“
Still, Fidelis, ganz still! Obwohl es einiges zu sagen gäbe über die Unterschiede zwischen hart und klar, zwischen Autorität und Unterdrückung, zwischen einem Damm gegen Hochwasser und jenem wider den freien Geist. Wenn der Rektor sich einmal hineingesteigert hat in seinen heiligen Zorn, sind die trefflichsten Argumente umsonst. Da empfiehlt es sich, einfach den Mund zu halten und abzuwarten. Ohne Widerstand ist der stärkste Schwall schnell verebbt.
Und tatsächlich: Als Pater Rektor aufsteht, hat er sich schon wieder beruhigt. Nur sein roter Kopf zeugt noch von der Heftigkeit der Suada, mit der er den jungen Ordensbruder eben überschüttet hat.
An der Tür hält er noch einmal inne.
„Weswegen ich eigentlich vorbeischauen wollte ...“
„Ja?“
„Ach, nicht so wichtig, vielleicht ein andermal. Wir sehen uns beim Abendgebet.“
Sie nicken einander zu. Die Tür schließt sich leise hinter dem Rektor.
Das Lesezeichen mit dem Tausymbol liegt auf dem Bettvorleger. Fidelis bückt sich seufzend danach. Auf Seite zweihundertzwei legt er es wieder in Rahners Strukturwandel ein.
*
Was bringt dieses ganze Archivieren überhaupt?, fragt er sich, wenn er in der Unmenge verstaubter Bücher und Handschriften zu versinken droht. Sammeln um des Sammelns willen war nie seine
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