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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Favel Parrett
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den Tisch geknallt war, dumpf und hölzern, aber er hatte den Aufprall nicht gespürt. Noch nicht. Dicke Flüssigkeit rann ihm in die Augenhöhle, und er wusste, es war Blut. Dann brannten auf einmal seine Finger, und er schrie. Jeffs Stiefel zertrat ihm die Hand, seine Finger wurden von harten Sohlen in den Teppich gequetscht.
    »Dad!«, schrie er.
    Nichts.
    Unter großer Anstrengung hob Miles seinen Kopf und sah, wie Jeff das leere Glas von Harrys Mund nahm. Harry rang nach Luft. Er sah schlecht aus. Er war blass, sein Gesicht glänzte vor Schweiß und klebriger Flüssigkeit. Dann erbrach er sich auf Jeffs Hand und Arm.
    »Scheiße. Verdammt noch mal, du kleines Schwein!«
    Jeff stieß Harry von sich und wischte sich das Erbrochene mit Harrys durchtränktem T-Shirt vom Arm.
    Miles begriff, dass seine Hand jetzt frei war, und sprang auf. Aber Dad war ebenfalls aufgestanden.
    Er stand da, vor dem Sofa, hielt sich unsicher auf den Beinen und blickte auf irgendetwas in der Ferne. Dann blieben seine Augen an Miles hängen. Und er hatte denselben Blick wie in jener Nacht, als er Joe den Arm gebrochen hatte. Joe war dreizehn gewesen und Miles sieben. Es war die letzte Nacht, die Joe im braunen Haus verbracht hatte.
    Und Miles fiel ein, was Dad in jener Nacht gesagt hatte. Was er zu Joe gesagt hatte. »Du bist genau wie er. Du bist ganz genau wie er.« Dann schleuderte er Joe so heftig durch das Zimmer, dass Joe gegen die Küchenbank schlug und ein furchtbarer Knacks zu hören war. Aber Joe gab keinen Laut von sich. Er weinte nicht, zuckte auch nicht oder sonst was. Er sah Dad einfach nur an und sagte: »Das freut mich.« Und Miles erinnerte sich, dass er sich übergeben musste, als er Joes verdrehten Arm sah, und dass Dad Joe zwang, es sauber zu machen.
     
    Miles sah vor sich auf den Teppich. Dort, wo er hingefallen war, war Blut, Tropfen von Blut. Und neben seinen Füßen war auch Blut. Und während er hinuntersah, fiel ein weiterer Tropfen auf den Teppich. Dann hörte er, wie Dad sich auf das Sofa zurückfallen ließ. Alles stand still, es wurde ruhig, auch Jeff hatte sich wieder hingesetzt.
    Miles nahm Harry am Arm und zog ihn ins Schlafzimmer. Er musste Harry nicht sagen, was er tun sollte, Harry war schon dabei, sich ein neues T-Shirt und Schuhe anzuziehen.
    »Deine Jacke habe ich«, flüsterte er Harry zu, und Harry zog ein paar Sachen unter seinem Bett hervor.
    Aus dem Wohnzimmer war immer noch nichts zu hören. Miles kletterte aus dem Fenster, dann half er Harry. Sie fingen an zu rennen, sie rannten nicht die Einfahrt hinunter, sondern ins dichte Gebüsch hinter dem Haus. Von drinnen hörten sie Dad brüllen. Sein Brüllen galt ihnen, galt allen. Sein Brüllen galt niemandem. Miles konnte hören, was er brüllte. Die Worte drangen durch die braunen Wände, durch die Luft, sie zerrissen die Nacht: »Ich habe dich nie gewollt!«
     
    »Wohin gehen wir?«, fragte Harry.
    Miles hatte keine Ahnung. Weg von hier jedenfalls.
    Der schmale Pfad, dem sie folgten, verlor sich, als sie an den Fluss gelangten. Von hier aus mussten sie sich ans Ufer halten. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht zu dicht an den Rand der Böschung gerieten. Es war dunkel. Kein Mond, keine Sterne. In der Dunkelheit konnte man nur schwer erkennen, wo das Wasser war. Aber es war da, es schoss durchs Dunkel und riss Abfall und Akazienstücke vom Ufersaum mit sich.
    »Wir könnten zu George gehen«, sagte Harry.
    Miles blieb stehen. »Was?«
    »Es ist okay. George ist in Ordnung. Er hat Großvater gekannt und –«
    »Was redest du da? Woher kennst du ihn überhaupt?«
    »Ich geh manchmal zu ihm und spiele mit Jake.«
    Miles packte Harry an den Armen.
    »Wer ist Jake, verdammt noch mal? Wovon redest du?«
    »George lässt mich mit seinem Welpen spielen, mit Jake, und dann essen wir zusammen Mittag. Er hat mir alles über Mum erzählt.«
    Miles ging weiter, ging so schnell wie möglich weg von Harry, aber Harry hörte nicht auf zu reden.
    »Er war Großvaters Freund, und es stimmt nicht, was die Leute über ihn sagen, und –«
    »Wir gehen da nicht hin. Klar? Ich kenne ihn nicht.«
    Sie marschierten eine Weile schweigend weiter, Harry immer hinter Miles, bis sie an die Brücke kamen.
    »George ist auf der anderen Seite«, sagte Harry.
    »Ich habe dir schon gesagt, dass wir da nicht hingehen.«
    »Und wo gehen wir dann hin?«
    Miles blieb stehen. Seine Augen brannten. Er hatte Harry noch nicht gesagt, dass Joe weg war.
    »Ich weiß nicht«, murmelte

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