Jenseits des Bösen
Es roch nach überlangem Aufenthalt.
»Du solltest nicht... sehen«, sagte sie.
»Ich habe dich schon nackt gesehen«, murmelte er. »Ich wollte dich wieder so sehen.«
»Ich meine nicht mich«, antwortete sie.
Er verstand ihre Bemerkung nicht, bis sie den Blick von ihm abwandte und in die entfernteste Ecke des Zimmers sah. Er 647
folgte dem Blick. Dort, tief in der Ecke, stand ein Stuhl. Auf diesem Stuhl lag etwas, das er beim Eintreten für ein Bündel Kleidungsstücke gehalten hatte. Aber das war es nicht. Die Blässe war nicht Wäsche, sondern bloße Haut, die Falten eines Mannes, der nackt auf dem Stuhl saß und den Oberkörper so weit vornübergebeugt hatte, daß die Stirn auf den gefalteten Händen lag. Sie waren an den Handgelenken
zusammengebunden. Das Seil verlief bis zu den Knöcheln hinab, die ebenfalls gefesselt waren.
»Das«, sagte Ellen leise, »ist Buddy.«
Als er seinen Namen hörte, hob der Mann den Kopf. Grillo hatte nur die allerletzten Überbleibsel von Fletchers Armee gesehen, aber er wußte dennoch, wie sie aussahen, wenn ihr Halbleben abzulaufen begann. Diesen Anblick sah er jetzt vor sich. Es war nicht der echte Buddy Vance, sondern eine Ausgeburt von Ellens Fantasie, die ihre Begierde
heraufbeschworen und geformt hatte. Das Gesicht war noch weitgehend intakt: vielleicht hatte sie es sich präziser als den Rest seiner Anatomie vorgestellt. Es wies tiefe Runzeln auf -
beinahe Furchen -, war aber unbestreitbar charismatisch. Als er sich ganz aufrichtete, wurde der zweite und detaillierteste Teil von ihm sichtbar. Teslas Klatsch war - wie immer - zuverlässig gewesen. Das Halluzigen hatte ein Gehänge wie ein Esel.
Grillo starrte es an und wurde erst aus seinem Neid gerissen, als der Mann zu sprechen anfing.
»Wer sind Sie, daß Sie einfach hier hereinkommen?« sagte er.
Die Tatsache, daß dieses Ding soviel eigenen Willen hatte, daß es sprechen konnte, schockierte ihn.
»Psst«, sagte Ellen zu ihm.
Der Mann sah zu ihr und wehrte sich gegen die Fesseln.
»Er wollte gestern nacht gehen«, sagte sie zu Grillo. »Ich weiß nicht, warum.«
Grillo wußte es, sagte aber nichts.
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»Ich habe ihn selbstverständlich nicht weggehen lassen. Es gefällt ihm, wenn er so gehalten wird. Dieses Spiel haben wir oft gespielt.«
»Wer ist das?« sagte Vance.
»Grillo«, antwortete Ellen. »Ich habe dir doch von Grillo er-zählt.« Sie stützte sich auf dem Bett auf, bis sie mit dem Rücken an der Wand lehnte und die Arme auf den
hochgezogenen Knien liegen hatte. Sie bot Vance' Blick ihre Fotze dar. Dieser betrachtete sie dankbar, während sie weitersprach. »Ich habe dir von Grillo erzählt«, sagte sie. »Wir haben es miteinander getrieben, oder nicht, Grillo?«
»Warum?« sagte Vance. »Warum bestrafst du mich?«
»Sag es ihm, Grillo«, sagte Ellen. »Er will es wissen.«
»Ja«, sagte Vance, dessen Tonfall plötzlich zögernd war.
»Erzählen Sie es mir. Bitte erzählen Sie es mir.«
Grillo wußte nicht, ob er kotzen oder lachen sollte. Er dachte, die letzte Szene, die er in diesem Zimmer gespielt hatte, wäre pervers genug gewesen, aber das hier war wieder etwas anderes. Ein Traum von einem toten Mann in Fesseln, der darum bettelte, mit einer Schilderung von Sex mit seiner Geliebten kasteit zu werden.
»Sag es ihm«, meinte Ellen.
Der seltsame Unterton ihres Befehls brachte Grillo wieder zu sich.
»Das ist nicht der echte Vance«, sagte er und genoß den Gedanken, ihr ihren Traum zu nehmen. Aber sie war ihm einen Schritt voraus.
»Das weiß ich«, sagte sie und ließ den Kopf kreisen, während sie ihren Gefangenen ansah. »Er kommt aus meinem Kopf. Ich bin wahnsinnig.«
»Nein«, sagte Grillo.
»Er ist tot«, antwortete sie leise. »Er ist tot, aber er ist immer noch da. Ich weiß, er ist nicht wirklich, aber er ist da, also muß ich verrückt sein.«
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»Nein, Ellen... das liegt an dem, was im Einkaufszentrum geschehen ist. Erinnerst du dich? Der brennende Mann? Du bist nicht die einzige.«
Sie nickte und machte die Augen halb zu.
»Philip...«, sagte sie.
»Was ist mit ihm?«
»Er hatte auch Träume.«
Grillo dachte wieder an den Jungen. Der verkniffene Ausdruck, der Verlust in seinen Augen. »Wenn du weißt, daß dieser... Mann nicht echt ist, warum dann die Spielchen?« sagte er dann.
Sie machte die Augen ganz zu.
»Ich weiß nicht mehr...«, begann sie, »... was echt ist und was nicht.« Das war Selbstmitleid, das einen Nerv berührte, dachte Grillo. »Als
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