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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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erfolgreich bewerkstelligen wollten: Seile, Fackeln und ein paar Kleidungsstücke. Daher war das Einkaufszentrum die erste Station des Unternehmens. Als sie dort eintrafen, war William am betroffensten über den Anblick, der sich ihnen bot.
    Seit er arbeitete, hatte er das Einkaufszentrum jeden Tag vom frühen Morgen bis zum frühen Abend emsig gesehen. Jetzt war niemand da. Die neuen Scheiben der Geschäfte glänzten; die 661
    hinter den Scheiben aufgestapelten Produkte lockten, aber es waren weder Käufer noch Verkäufer anwesend. Die Türen waren alle verschlossen; die Geschäfte stumm.
    Mit einer Ausnahme: die Tierhandlung. Diese hatte, ganz im Gegensatz zu den anderen Läden des Zentrums, wie üblich ge-
    öffnet; die Tür stand offen, die Waren kläfften, krächzten und erzeugten ganz allgemein ein wahres Tohuwabohu. Während sich Grillo und Hotchkiss auf den Weg machten, die
    Einkaufsliste abzuhaken, nahm Witt Tesla mit in die
    Tierhandlung. Ted Elizando arbeitete, er füllte gerade die Tropfwasserflaschen an den Katzenkäfigen auf. Es überraschte ihn nicht, Kundschaft zu sehen. Er zeigte überhaupt keinen Gesichtsausdruck. Nicht einmal, daß er Witt kannte, obwohl Tesla nach den Begrüßungsworten vermutete, daß dem so war.
    »Ganz allein heute morgen, Ted?« sagte Witt.
    Der Mann nickte. Er hatte sich seit zwei oder drei Tagen nicht mehr rasiert. Und nicht geduscht. »Ich... wollte eigentlich gar nicht aufstehen... aber ich mußte es. Wegen der Tiere.«
    »Natürlich.«
    »Sie würden sterben, wenn ich mich nicht um sie kümmere«, fuhr Ted fort und sprach langsam und einstudiert wie jemand, der Mühe hat, seine Gedanken zu behalten. Er machte beim Sprechen den Käfig neben sich auf und holte ein Kätzchen aus einem Nest aus Zeitungspapierschnipseln heraus. Es lag in seinem Arm, den Kopf in der Armbeuge. Er streichelte es.
    Dem Tier gefiel die Aufmerksamkeit, es krümmte den Rücken jeder langsamen Bewegung der Hand entgegen.
    »Ich glaube nicht, daß noch jemand in der Stadt ist, der sie kauft«, sagte William.
    Ted betrachtete das Kätzchen.
    »Was soll ich nur machen?« sagte er. »Ich kann sie nicht ewig füttern, oder?« Er sprach mit jedem Wort leiser, bis er nur noch flüsterte. »Was ist nur mit den Leuten los?« sagte er.
    »Wohin sind sie gegangen? Wohin sind alle gegangen?«
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    »Fort, Ted«, sagte William. »Sie haben die Stadt verlassen.
    Und ich glaube nicht, daß sie zurückkommen werden.«
    »Glaubst du, ich sollte auch gehen?« sagte Ted.
    »Das solltest du vielleicht«, antwortete William.
    Der Mann schien am Boden zerstört zu sein.
    »Was wird aus den Tieren?« fragte er.
    Als sie Zeugin von Ted Elizandos Elend wurde, wurde Tesla zum ersten Mal das ganze Ausmaß der Tragödie des Grove be-wußt. Als sie zum ersten Mal durch die Straßen gegangen war und Botin für Grillo gespielt hatte, da hatte sie das Handlungsgerüst für das fiktionale Ende der Stadt erstellt. Das Bombe-im-Koffer-Drehbuch, in dem die apathischen
    Bewohner des Grove die Prophetin in dem Augenblick aus der Stadt jagten, als der große Knall kam. Die Geschichte war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Die Explosion war langsam und subtil gewesen, nicht schnell und heftig, aber sie hatte dennoch stattgefunden. Sie hatte die Straßen leergefegt und nur ein paar - wie Ted - verschont, die durch die Ruinen stolperten und die letzten vereinzelten Überreste von Leben einsammelten. Das Drehbuch war eine Art fantasierter Rache an der behaglichen, sorglosen Existenz der Stadt gewesen.
    Aber in der Retrospektive war sie ebenso sorglos wie die Stadt selbst gewesen und war sich ihrer moralischen Überlegenheit ebenso sicher wie die Stadt sich ihrer Unverwundbarkeit. Hier wurden echte Schmerzen erduldet. Echter Verlust. Die
    Menschen, die im Grove gelebt hatten und geflohen waren, waren nicht aus Pappe ausgeschnitten. Sie hatten geliebt und gelebt, hatten Familien und Haustiere; sie hatten sich hier niedergelassen in dem Glauben, sie hätten einen Platz an der Sonne gefunden, wo sie sicher waren. Sie hatte nicht das Recht, über sie zu richten.
    Sie ertrug es nicht mehr, Ted weiter anzusehen, der das Kätzchen mit einer solchen Zärtlichkeit streichelte, als wäre es sein einziges Bindeglied zur geistigen Gesundheit. Sie überließ 663
    es Witt, mit ihm zu sprechen, und ging auf den hellen Parkplatz, um herauszufinden, ob sie Coney Eye zwischen den Bäumen erkennen konnte. Sie studierte die Hügelkuppe so lange, bis sie

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