Jenseits des Tores
als er vorhin in ihr gewesen war. Ein weiteres Mal war er zu ihrem Retter geworden, obgleich er sie bei ihrer allerersten Begegnung hatte töten wollen. Doch das war in einem anderen Leben gewesen, in einer anderen Welt.
Jetzt hockte er da, seine finsteren Augenhöhlen auf Lilith gerichtet. Also war selbst dieser Blick noch des Sehens fähig.
Grausam .
Lilith öffnete die staubverkrusteten Lippen. Doch sie brauchte lange, ehe sie auch nur ein Krächzen hervorbrachte. Eine Folge wirrer Laute, aus denen schließlich zwei Worte verständlich wurden.
Ein Name.
Aber wirklich sein Name?
»Raphael Baldacci?«
*
Raphael Baldacci...
Der Name wehte nach allen Seiten hin über das gelbgraue Staub -meer. Nur das Tor bot den geflüsterten Worten Widerstand und ließ sie zersplittern in Echos, die wie von fremden Stimmen gesprochen klangen.
Raphael . phael . el . el . el .
Baldacci . dacci . ci . ci .
Die Trümmer ihrer eigenen Worte kehrten zu Lilith zurück, drangen in sie und beschworen Erinnerungen herauf, die in ihrer Gesamtheit nicht angenehm waren, denn Haß und Tod hielten sie zusammen.
In Salem's Lot war Lilith zum ersten Mal auf den jungen Mann mit dem südeuropäischen Aussehen getroffen, als sie beide die Spur der Para-Träumerin Jennifer Sebree aufgenommen hatten. Zunächst waren da zarte Gefühle und schließlich das Feuer der Leidenschaft zwischen ihnen gewesen. Doch als Baldacci Liliths wahres Wesen erfahren, ihr vampirisches Gesicht geschaut hatte, da hatte er sie nur noch töten wollen. 4
Ihre zweite Begegnung hatte wenig später in Nova Scotia stattgefunden. In einem verlassenen Burggemäuer hatten sie Kontakt zu einem geheimnisvollen Kind gefunden, das sie schließlich beide in eine Traumwelt schleuderte, in der die Erde vollends von Vampiren unterjocht war, die Menschen wie Vieh hielten. Landru, ihr Todfeind, war der König dieses Reiches gewesen, und mit ihm hatte Li-lith in einer Bluthochzeit vermählt werden sollen. Raphael Baldacci hatte die Zeremonie verhindert - indem er sich selbst geopfert und all seine Macht für einen finalen Schlag genutzt hatte, der die Welt der Vampire hatte untergehen lassen. 5
Lilith hatte nie daran gezweifelt, daß Raphael Baldacci dabei ums Leben gekommen war. Aber sie hatte auch nie damit gerechnet, ihm wiederzubegegnen - oder dem Teil von ihm, der unsterblich war. Und der jetzt an diesem Ort hier zu vegetieren verdammt war, obgleich noch etwas von seiner mysteriösen Macht in ihm war.
So sehr Baldaccis Schicksal sie auch selbst rührte, konnte Lilith doch nur von Glück sagen, daß es so war. Denn wenn er sie nicht erlöst hätte aus der Gewalt der hassenden Seelenkreaturen, wäre end-loses Leiden ihr eigenes Schicksal geworden .
Die Bilder aus der Vergangenheit verblaßten und ließen die realen wieder hervortreten. Lilith sah Baldacci - oder das Wesen eben, zu dem er geworden war - unverändert in ihrer Nähe im Staub kauern. Und trotz seines mitleiderregenden Aussehens verspürte sie eine in dieser Situation eigenartige, aber wohlige Wärme in sich aufsteigen. Sie rührte von dem her, was ganz am Anfang zwischen ihr und Raphael gewesen war. Und von dem Gedanken, daß sehr viel mehr daraus hätte werden können, wenn nicht die Alte Rasse ihr Stiefvolk gewesen wäre .
»Bist du es wirklich?« fragte sie stockend, obwohl sie sich dessen längst sicher war. Sie tat es nur, um die lastende Stille zu vertreiben - und um das Gefühl von Wärme zu verdrängen.
Der schmale Kopf bewegte sich nickend, und fast schien es, als würde er von dem mageren Hals nicht länger getragen werden können. Die Stimme des Wesens schien nicht nur aus einem Mund zu dringen. »Ja, ich bin es.«
Dutzende von Fragen drängten sich auf Liliths Zunge und wollten über ihre Lippen. Doch sie ließ nur ein einziges Wort hervor. »Danke.«
Wieder nickte Baldacci.
»Schon gut«, gurgelte es aus vielen Mündern, die Lilith erst jetzt überall an seinem weißen Leib entdeckte. Wie lebende Wunden öffneten sie sich und gaben den Blick auf schwärendes Dunkel frei. Und nach einer Weile sagten sie: »Für dich lohnt es sich, sein Leben selbst nach dem Tod noch in die Waagschale zu werfen.«
Lilith fand keine Bitternis in Baldaccis Worten, und auch keine Ironie. Nur etwas wie ein Echo jener Wärme, die sie in sich selbst verspürte ob der Erinnerung an ihn.
Mühsam Kraft in sich sammelnd, schob Lilith sich in Baldaccis Richtung. Ihre Finger fanden kaum Halt in dem pulvrigen Boden, und so
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