Jenseits von Feuerland: Roman
bei Tage. Die Freiheit, zu entscheiden, wohin sie ihre Schritte führten, war der Beweis, dass sie keine unglückselige Kreatur der Nacht mehr war, die einzig dafür lebte, anderer Gier zu befriedigen.
Nein, sie lebte für sich selbst. Und natürlich auch für Emilia. Sie mochte Rita, sie mochte Aurelia, aber nur für Emilia wäre sie auch durchs Feuer gegangen – Emilia, die sie von Ernesta befreit und ihr dieses Leben ermöglicht hatte.
Ana hielt inne, in der Ferne bellten die Hunde. Kubahunde wurden sie genannt – diese Kreuzung zwischen Dogge und jamaikanischem Brackhund, eine ziemlich gefährliche, weil blutrünstige Mischung, die die Engländer einst gezüchtet hatten, um sie gegen Wildschweine und Stiere kämpfen zu lassen, und die sich, wie sich herausgestellt hatte, hervorragend als Hütehunde für die Schafe eigneten.
Ana mochte sie nicht, nicht nur, weil sie wild und ungebärdig waren und auf ihre Befehle meist nicht hörten, sondern weil selbst die Hündinnen sie irgendwie an Männer erinnerten. Und Ana mochte auch keine Männer – was ein weiterer Grund war, warum sie heute lieber hier draußen herumstreunte, als drinnen zu sitzen.
Gewiss, Balthasar war nicht gefährlich, er gehörte zu den Guten, irgendwie mochte sie ihn sogar und hörte gerne seine Komplimente – und dennoch: Anders als Rita wusste sie nicht, was sie an Unterhaltsamem aus seiner Gesellschaft ziehen sollte. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, so hätte sie am liebsten nur Frauen auf die Estancia gelassen.
Zumindest während der Schafschur war das leider ganz und gar unmöglich. Ana schlug jedes Mal drei Kreuze – obwohl sie ihren Glauben an Gott längst verloren hatte –, wenn die vorüber war. Während die Frauen zwischendurch, so wie jetzt, ganz allein auf der Estancia lebten, zog die Aussicht auf Arbeit und Lohn zu dieser Zeit fast ein Dutzend Männer an – meist waren viele Schotten darunter und Waliser, kaum Spanier. Nicht nur, dass Letztere oft nach Lust und Laune und nicht nach Notwendigkeit arbeiteten, obendrein konnten sie sich nicht daran gewöhnen, dass die Schafe zu festen Zeiten zu scheren waren. Stattdessen taten sie es ohne Rücksicht auf die Jahreszeiten und den Fellwuchs der Tiere, schlichtweg, wenn ihnen der Sinn danach stand. Die Schotten und Waliser hätten sich solche Gedankenlosigkeit nie erlaubt – doch rohe, schlichte Männer waren sie trotzdem. Ana hielt ihnen zugute, dass sie schnell und gründlich arbeiteten. Aber sie hasste es aus ganzem Herzen, wenn die Verschneider die Lämmer mit den Zähnen kastrierten. Sie hatte von sich geglaubt, dass ihr nichts Menschliches fremd wäre – und sich dennoch beinahe übergeben, als sie es das erst Mal erlebt hatte, wie einer der Männer einen Schnitt in den Hodensack des jämmerlich mähenden Lammes machte, mit einem Ruck die Hoden nach unten zerrte, die Samenstränge an der dünnsten Stelle durchbiss und die Hoden schluckte, als wäre es eine Delikatesse.
»Wie können sie nur!«, hatte sie angewidert ausgerufen.
Emilia hatte nur die Schultern gezuckt. »Dann brauchen sie weniger zu essen«, hatte sie versucht, das Gute an der Sache zu sehen.
Ana machte ein paar Schritte, blieb stehen, lauschte wieder. Die Hunde hatten aufgehört zu bellen, aber plötzlich ertönte ein anderes Geräusch, dessen Ursache sie nicht genau einschätzen konnte. Es war ein Krachen, das vom Stöhnen des Windes etwas gedämpft wurde – vielleicht ein morscher Ast, der sich vom Baumstamm löste, oder eine zufallende Tür. Je öfter es ertönte, desto unruhiger wurde Ana. Wenn es tatsächlich eine Tür war, musste sie verschlossen werden. Sie beschleunigte ihre Schritte. Hoffentlich kam das Krachen nur von einem der Schuppen!, schoss es ihr durch den Kopf. Eine wahre Katastrophe wäre es, wenn das Gatter von jenem Stall offen stand, der die Herdbuchherde von den übrigen Schafen trennte – die reinrassigen und darum teuersten Tiere, die nicht mit denen niedrigerer Qualität vermischt werden durften.
Atemlos erreichte Ana den Stall, doch dort fand sie nichts Ungewöhnliches vor. Alle Gatter und Tore waren verschlossen. Dennoch sträubten sich plötzlich ihre Haare, und Gänsehaut breitete sich über die Unterarme aus. Das Krachen war etwas leiser geworden, aber ihre Unruhe wuchs. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte sie. Ihr Blick wanderte zum Haupthaus, das schwach beleuchtet war, dann zurück zu den Ställen, in denen die Tiere schliefen, und schließlich zu
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