Jenseits von Feuerland: Roman
Abgesandte von ihren Stämmen schon mehrfach beim Gouverneur beschwert – doch niedergerissen hatte man die Zäune natürlich nicht.
Wieder ein Ächzen. Und wieder ein flehentliches »Bitte!«.
Was sollte sie nur tun?
Vorsichtig tastete sie den riesigen Körper ab. Er war ziemlich warm – ein Zeichen, dass er nicht gleich verbluten würde. Sie glaubte nun auch, die Wunde auszumachen – einen Einschuss in der Leistengegend. Das Ächzen wurde jämmerlicher, als sie die Haut darum berührte, doch wenigstens troff das Blut nur mehr wie ein dünner Faden daraus hervor. Sie musste unbedingt Licht holen.
Vorsichtig legte sie den Kopf auf den Boden zurück, und diesmal hielt der Tehuelche sie nicht auf.
»Ich bin gleich zurück …«, stammelte sie.
Auf dem Weg zum Haus überlegte sie abermals, ob es nicht besser wäre, die anderen zu alarmieren, aber dann entschied sie sich dagegen. Dieser Mann hier war nicht einfach nur verletzt – er war angeschossen worden. Solange sie nicht wusste, wie das geschehen war und wer es getan hatte, war es besser, dieses Geheimnis für sich zu behalten.
Als sie mit einer Fackel zurück in den Schuppen kam, sah sie, dass es dem Mann trotz Verletzung und Schmerzen gelungen war, ein Stückchen weiter nach hinten zu robben. Er saß gegen eine der Holzwände gelehnt und starrte ihr mit glasigen Augen entgegen.
Ana sog scharf den Atem ein. Im Licht der Fackel wirkte er noch riesiger. Wäre sie ihm stehend begegnet, wäre sie wahrscheinlich vor Angst gestorben. Allerdings war er nicht nur riesig, sondern auch wunderschön – mit dieser überaus muskulösen, sehnigen Statur und der dunklen, glatten Haut. Sie verstand, warum der Missionar die Tehuelche als die Aristokraten Patagoniens bezeichnet hatte. Selten hatte sie so feine Gesichtszüge gesehen, aus denen eine Adlernase stolz hervorstach. Die Haut war nicht nur glatt, sondern schien zu glänzen wie das Haar. Dieses wurde mit einem Stirnband aus Leder gebändigt – mehrere Straußenfedern steckten darin. Als er den Mund öffnete, blitzten die Zähne weiß hervor.
»Niemand …«, setzte er an, konnte jedoch nicht weiterreden.
Ana hockte sich neben ihn und steckte die Fackel in die Erde. Das blutdurchtränkte Fell – es war das eines Guanakos – war etwas verrutscht, und sie erkannte einen Lederschurz, den er darunter trug. Wieder tastete sie vorsichtig seinen Bauch ab, dessen Muskeln hart wie Stahl waren. Der Missionar hatte einmal behauptet, dass die Tehuelches schnell wie Pferde wären – und obwohl dieser Mann so geschwächt war, konnte sie sich das gut vorstellen.
Als sie die Wunde untersuchte, zuckte er wieder zusammen.
»Niemand …«, begann er erneut, und diesmal gelang es ihm, den Satz zu beenden: »Niemand darf wissen, dass ich hier bin.« Sein Spanisch klang kehlig, aber er sprach es fließend und ohne starken Akzent.
»Hast du Schafe gestohlen?«, fragte Ana streng. »Hat man dich deswegen angeschossen?«
Sie hatte nicht nur eine Fackel mitgebracht, sondern auch ein Stück Leinen und presste dieses nun auf die Wunde.
»Haben … auf mich geschossen … auf alle geschossen … plötzlich da …«
Er beherrschte zwar ihre Sprache, aber die Schmerzen schienen seinen Geist zu trüben, so dass er nicht in ganzen Sätzen sprechen konnte. Das Leinen hatte sich indessen mit Blut vollgesogen. Gerne hätte sie nachgesehen, ob die Kugel am Rücken den Körper verlassen hatte oder noch in ihm steckte und ihn vergiften würde, doch sie war nicht stark genug, diesen riesigen Körper nach vorne zu ziehen.
»Woher kommst du?«, fragte sie. »Wer bist du?«
Er schien sie nicht gehört zu haben. »Argentinier … Es waren Männer aus Argentinien. Auch einige Chilenen waren dabei … Sie haben gesagt, dass sie uns töten würden … alle. Und das haben sie dann auch getan.«
Kalte Schauder rannen jäh über ihren Rücken. Obwohl sie nicht mehr verstand, was er nun nuschelnd hinzufügte, ahnte sie, dass er kein Schafdieb war. Sie erinnerte sich an das, was Emilia über Rita erzählt hatte und worüber diese selbst niemals gesprochen hatte – dass einst ihr ganzer Stamm ausgerottet worden war und nur sie überlebt hatte.
Auch hierzulande hörte man immer wieder davon, dass insbesondere die Argentinier Jagd auf die Indianer machten, manchmal sogar über die Grenze nach Chile kamen und deren kleine Zeltstädte überfielen.
Ana nahm ein frisches Stück Leinen und drückte auch dieses auf die Wunde. Sie sah
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