Jenseits von Feuerland: Roman
und an kleinen Höhlen vorbei, und plötzlich hörte sie ein Kreischen. Von Enten kam es, Shack-Enten. Zu Hunderten nisteten sie auf den Hochebenen, hockten auf Nestern aus Schlamm und Stroh. Wenn sie im Tiefflug schwebten, sah man ihren veilchenblauen Bauch.
»Dort ist sie, Großmutter, nicht wahr? Dort ist mein Mädchen?«
Das Bild zerrann. Sie sah nun wieder den Webstuhl ihrer Großmutter, sah die flinken braunen Hände, die ihn bearbeiteten, doch als sie den Kopf hob und ihr noch einmal ins Gesicht blicken wollte, war sie verschwunden. Rita stand nicht länger vor dem vertrauten Zelt, sondern lag in Aurelias Bett.
»Ich will, dass du von diesem Ort fernbleibst und dich nicht einmischst, hörst du?«
Balthasar schien zu ahnen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, deswegen wiederholte er den Satz immer wieder. Am Ende nickte Rita, doch sein Seufzen verriet ihr, dass er ganz genau wusste, was in ihr vorging.
Seit sie aus dem Traum aufgeschreckt war, hatte sie keinen Augenblick mehr ruhig zu sitzen vermocht, und Balthasar hatte sie nicht beschwichtigen können. »Es war nur ein Traum! Niemand weiß, ob es diese Landschaft wirklich gibt.«
»Sie ist dort. Ich fühle es. In einer der Höhlen der Hochebene, nicht weit von den nistenden Vögeln entfernt …«
Noch in der Nacht hatte sie Maril aufgesucht und ihm erklärt, wie der Ort aussah – die Hochebene, die schroffen Steilhänge mit den Höhlen, die Shack-Enten mit den blauen Bäuchen. Anders als Balthasar, der mit gerunzelter Stirn gelauscht hatte, hatte Maril aufmerksam zugehört und schließlich genickt. »Ich weiß nicht, ob es dort Höhlen gibt, aber ich weiß, wo so viele Shack-Enten nisten.«
Nun war es unmöglich gewesen, Rita auf der Estancia zu halten. Noch vor dem ersten Morgengrauen waren sie aufgebrochen – Maril ernst, Balthasar sorgenvoll, Pedro grimmig, Rita voller fiebriger Unruhe. Mit dieser hatte sie auch Agustina angesteckt, die es sich wieder einmal nicht nehmen lassen wollte, mitzukommen.
Sie waren kaum losgeritten, als in der Ferne rötliches Dämmerlicht aufblitzte. Der Morgen kam heute nicht langsam, zögerlich, sondern mit rotglühender Macht. Der Wind peitschte unbarmherzig auf sie ein, wirbelte die ganze Wegstrecke über Sand und Staub hoch; der Geruch nach Schnee lag in der Luft, doch noch war keine einzige Flocke gefallen.
»Hör zu«, murmelte Balthasar. »Selbst wenn es diesen Ort tatsächlich gibt – jetzt vor Anbruch des Winters nisten gewiss keine Vögel dort.«
»Mag sein«, gab sie zur Antwort, »aber vielleicht waren die Enten nur ein Zeichen – damit ich Maril den Ort beschreiben kann und er ihn findet.«
Der Sturm wurde im Laufe des Tages heftiger. Zu Mittag, als sie eine kurze Rast einlegten, konnten sie kaum Brot essen, ohne dass Sand in ihre Münder geweht wurde. Rita brachte ohnehin nichts hinunter, so eindringlich Balthasar sie auch beschwor, sie müsse etwas essen, und auch Agustina verweigerte das Brot, weil sie ganz und gar damit zu kämpfen hatte, sich die schlimmen Rückenschmerzen nicht anmerken zu lassen. Nur Pedros Appetit war unvermindert – beinahe frohlockend klang seine Stimme, als er wieder einmal dröhnte, er würde jedem die Haut abziehen, der der kleinen Aurelia etwas zuleide täte.
Am späten Nachmittag erreichten sie die Hochebene. Nicht mehr der grobkörnige Sand regnete auf ihre Gesichter, sondern Federn, Geäst und Bröckelchen von trockenem Schlamm. Weit und breit flogen keine Vögel, aber die Überreste der Nester vom Frühling und Sommer waren gut zu erkennen.
Rita glaubte zu zerspringen, so aufgeregt wurde sie. Ihre ohnmächtige Furcht war von ihr abgefallen. Aurelia, flehte sie im Stillen ihre Tochter an, Aurelia, halte nur ein ganz klein wenig durch. Bald bin ich bei dir.
»Ich weiß, dass sie hier ist«, rief sie. »Ich fühle es. Dies ist der richtige Ort!«
Agustinas Gesicht wurde hoffnungsvoll – Balthasar dagegen blickte zweifelnd in die Ödnis und zuckte zusammen, als sie nicht weit von ihnen plötzlich Pferdegetrampel hörten. Rita war so konzentriert darauf gewesen, ob die Großmutter noch einmal zu ihr sprach, dass sie sie zunächst nicht wahrnahm, doch als Balthasar an ihrem Ärmel zupfte und aufgeregt in eine bestimmte Richtung deutete, erkannte sie eine Truppe uniformierter Männer.
Balthasar tauschte einen kurzen Blick mit Pedro.
»Wir sollten sie fragen, ob sie etwas gesehen haben.«
Rita hatte wenig Hoffnung, als die beiden auf die Truppe
Weitere Kostenlose Bücher