Jenseits von Feuerland: Roman
vielen religiösen und wohltätigen Organisationen gebe. ›Weiblicher Verein zur Armen- und Krankenpflege‹ – so heißt der meine. Eine gewisse Amalie Sieveking hat ihn schon vor über sechs Jahrzehnten gegründet.«
Sie seufzte und hob erstmals ihren Blick. »Ich bin keine ausgebildete Ärztin, aber ich verstehe viel von Medizin. Und ich könnte vor Wut schreien, wenn ich auf die tauben Ohren dieser Ärzte stoße! Einfachste Hygienemaßnahmen werden nicht beachtet!«
Emilia konnte sich nur schwer vorstellen, dass Noras Wut so groß werden könnte, um laut zu schreien. Wahrscheinlich hatte sie das ihr Leben lang nicht getan.
»Doch besser, ich echauffiere mich nicht darüber, sondern bin vielmehr dankbar, dass mich mein Verein überhaupt noch hier arbeiten lässt«, fuhr sie mit gemäßigtem Tonfall fort.
Emilia blickte sie erstaunt an. »Warum sollte er nicht?«
Ein Laut drang über Noras Lippen, der wie ein trockenes Lachen klang. »Dr. Hufnagel versäumt keine Möglichkeit, mich loszuwerden. Und eine Bedingung meines Vereins ist, dass alle Mitglieder ein anständiges, sittliches Leben gemäß der christlichen Lehre zu führen haben. Stets wird überprüft, ob wir auch regelmäßig den Gottesdienst besuchen. Dr. Hufnagel hat nun offenbar herausgefunden, dass meine Ehe nicht ganz … gewöhnlich ist, ja, dass Arthur viele Jahre im Ausland verbracht hat und nicht an meiner Seite. Seitdem versucht er, mir einen unsittlichen Lebensstil nachzusagen.«
Emilia war instinktiv zurückgewichen. Eigentlich wollte sie nichts davon hören – weder von Arthur noch von seiner Ehe. Aber als Nora nun schwieg, fielen ihr Arthurs beschwörende Worte wieder ein – dass seine Ehe keine richtige sei.
Sie kämpfte damit, ob sie Nora danach fragen sollte, was genau es mit ihrer sonderlichen Beziehung auf sich hatte, doch bevor sie sich dazu überwinden konnte, wurden Rufe vom Gang her laut. Weitere Kranke waren eingetroffen.
Arthur konnte kaum atmen. Er war sich nicht sicher, ob es an der Hitze lag oder am unerträglichen Gestank. Mehrmals war er heute bereits einer der Desinfektionskolonnen begegnet, die von Haus zu Haus fuhren und alles, was sich in Reichweite befand, mit Karbol einsprühten.
So unvermeidbar diese Maßnahme war – Arthur wusste, dass die von Karbol durchnässten Betten neue Krankheiten auslösten, obendrein manche Diebe den Zeitpunkt nutzten, wenn die Bewohner ihre Häuser verließen, um sämtliches Hab und Gut daraus zu stehlen, und dass es grässlich roch.
Trotz des Gestanks, der von den Häusern ausging, lehnte er sich an eine von deren Wänden und keuchte schwer. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen oder zumindest stillgesessen hatte.
Die Apotheke Hoffmann war in den letzten Tagen nahezu belagert und – wie alle anderen – rund um die Uhr geöffnet worden. Es gab so viel Nachfrage nach ihren Produkten, dass sie kaum etwas davon rechtzeitig nachbestellen konnten – weder den Chlorkalk zur Desinfektion noch Choleratropfen aus Kampfer, Schwarzpulver für Infusionen oder Cholerawein. Nicht alle warteten darauf, dass die Desinfektionskolonnen zu ihnen kamen, sondern wollten selber Karbolwasser erstehen und ihre Häuser damit einsprühen, und nachdem eine Verlautbarung veröffentlicht worden war, wonach Leichenkutscher regelmäßig mit diesem angespritzt werden sollten, wollte manch vorsichtiger Bürger diese Schutzmaßnahme auch für sich nutzen.
Besagte Leichenkutscher waren im Übrigen fast alle betrunken. Wenn Arthur in den letzten Tagen die Apotheke verlassen hatte – stets zum Missfallen des Onkels –, war er mehrere Male fast von einem über den Haufen gefahren worden. Alkohol galt als Schutz gegen die Seuche – und insbesondere die, die auch in besseren Zeiten gerne einen über den Durst tranken, ließen sich das nicht zweimal sagen.
»Bleib zu Hause!«, befahl sein Onkel immer wieder. »Draußen bist du nicht sicher! Und ich brauche dich hier!«
Er hörte nicht auf ihn. Wenn sich ihm irgendwie die Gelegenheit bot, lief er durch die Straßen. Auch nach dem Ausbruch der Cholera hatte ihn weiterhin der Wunsch getrieben, endlich herauszufinden, warum Nora so oft nicht nur tagsüber, sondern auch am Abend das Haus verließ und die ganze Nacht über fortblieb. Scheinbar hatte sie es gemerkt, als er sich am ersten Abend an ihre Fersen heftete, und erwies sich nicht nur als ungemein vorsichtig, sondern auch als geschickt, wenn es darum ging, das
Weitere Kostenlose Bücher