Jenseits von Feuerland: Roman
Labyrinth an Straßen für sich zu nutzen. Jedes Mal war sie ihm entwischt oder rechtzeitig in eine Droschke gestiegen, der er zu Fuß nicht folgen konnte.
Als bekannt geworden war, dass nicht nur in Hamburg, sondern auch in der Vorstadt Sanct Pauli die Cholera wütete, hatte es keine Rolle mehr gespielt, wohin Nora ging und was sie trieb. Arthur war beunruhigt zu Hella von Mummhausens Varieté geeilt und hatte dieses voller Entsetzen nur leer angetroffen. Nachbarn berichteten von mehreren erkrankten Ensemblemitgliedern, konnten aber nicht sagen, ob auch eine junge, blonde Frau, die aus Chile stammte und Emilia hieß, darunter war. Hella selbst hätte mit ein paar ihrer Singmädchen die Stadt fluchtartig verlassen, die Erkrankten wären in die Krankenhäuser eingeliefert worden.
Am nächsten Tag hatte er beide Krankenhäuser – das Alte Krankenhaus von St. Georg und das Allgemeine Krankenhaus in Eppendorf – aufgesucht. Stundenlang war er von einem überfüllten Saal zum nächsten gegangen, doch in dem Chaos und Tumult dort hatte er Emilia nirgendwo finden können. Entmutigt war er zurück in das Haus seines Onkels gekehrt, doch dort fühlte er sich wie in einem Gefängnis. Er wusste, er war hier sicher – schon in der ersten Woche nach Krankheitsausbruch waren sämtliche Räume desinfiziert worden –, aber er konnte unmöglich in Ruhe hier sitzen oder in der Apotheke helfen, während er Emilia dort draußen in der verseuchten Stadt wusste! Immer wieder ging er nun in die Krankenhäuser, immer wieder auch nach Sanct Pauli, um nach ihr zu fragen, und auch heute war er dorthin aufgebrochen, doch nie hatten ihm seine Schritte so viel Anstrengung gekostet.
Er kühlte sein Gesicht an der Hauswand und sah erst jetzt, dass sie über und über mit Plakaten behängt war: Verbote waren darauf zu lesen – nämlich keine Tanzveranstaltungen zu besuchen, öffentliche Bäder zu meiden und rohes Obst nicht mehr auf der Straße zu kaufen.
Arthur löste sich von der Hauswand und ging weiter. Jeder Schritt kam ihm so vor, als würde er Steine auf der Schulter schleppen. Das Bild vor seinen Augen zerrann. Wie unerträglich schwül es war!
»Aus dem Weg!«, bellte ihn jemand an. Er fuhr herum und sah einen Hausierer auf sich zuschreiten, der einen schweren Holzwagen mit sich zog. Viele Döschen, Fläschchen und Ampullen lagen darauf, und alle waren sie mit einem Namen beschriftet, der das Wörtchen »Cholera« beinhaltete. Hätte er sich kräftiger gefühlt, hätte er mit dem Mann einen Streit begonnen. Hausierer wie dieser nutzten die Epidemie gnadenlos aus und verkauften – in Konkurrenz zu Apotheken – sehr teure Allheilmittel, die natürlich nicht wirkten. Doch nun ließ er den Mann passieren, anstatt sich mit ihm anzulegen – ebenso, wie er die Gruppe Menschen ignorierte, die auf den Hausierer folgte und gerade eine Kirche verließ, wo einer der vielen Fürbittgottesdienste stattgefunden hatte. Ansonsten blieb es vergleichsweise ruhig auf den Straßen. Die meisten Bewohner Hamburgs versteckten sich in den Häusern – ganz anders als in den ersten Tagen, da noch Chaos geherrscht hatte: Sobald ein Verdacht auf Cholera bestand, hatte man den Kranken von der Familie fortgeholt und ungerührt Eltern von Kindern und Männer von Frauen getrennt, was nicht nur zu Klagen und Weinen führte, sondern manchmal zu körperlichem Widerstand. Nicht immer war ein Krankenwagen zur Stelle, um die Kranken nach Sanct Georg oder nach Eppendorf zu bringen – stattdessen wurden insbesondere die Ärmeren von Polizisten mit auf die Wache genommen, wo sie in winzigen Zellen auf kalten Steinen liegen und manchmal elendiglich sterben mussten.
Nun, immerhin war die Zahl der Krankenwagen aufgestockt worden – mittlerweile waren es über dreißig, die ständig unterwegs waren –, doch wenn es in Hamburgs Straßen nun ruhiger zuging, waren die Zustände im Hafen chaotisch: Russische Auswanderer, die eigentlich auf dem Weg nach Übersee waren, saßen in Logierhäusern und Hafenbaracken fest. Langsam gingen nun Wasser und Nahrung aus, Randale wurden befürchtet.
Arthur war kaum zehn Schritte gegangen, dann fühlte er sich wieder so erschöpft, dass er sich abermals gegen eine Hauswand lehnen musste. Schweiß tropfte von seiner Stirn, rann schließlich wie Tränen über die Wangen. Er erblickte erneut ein Plakat mit einer Verordnung, doch die Worte verschwammen vor seinen Augen. Er konnte nur lesen, dass sie von Johann Georg
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