Jenseits von Feuerland: Roman
sie fest. »Geht es Aurelia gut?«
»Natürlich!«, rief er schnell. »So gut, wie es ihr ohne dich gehen kann.«
»Was ist es dann?«
Als Balthasar nichts sagte, starrte sie Ana an. »Sag du es mir!«
»Bitte …«, Balthasars Stimme klang flehentlich.
Doch Ana überhörte ihn. »Lügen bringen uns nicht weiter«, erklärte sie entschlossen. »Es ist nur … Jerónimo hat ganze Arbeit geleistet. Wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, Esteban wäre der zuverlässigste, anständigste und tüchtigste Bürger von ganz Punta Arenas gewesen. Er hat die Geschichte so oft erzählt und so lange verdreht, dass der Mob völlig aufgehetzt ist. Als ruchbar wurde, dass wir bei der Gobernación waren, um für dich einzutreten – du weißt, ein Deutscher, Rudolfo Stubenrauch ist Vize-Consul, und Balthasar hoffte, er würde ein offenes Ohr für unsere Belange haben – nun, da zog eine wütende Menge dorthin und forderte … forderte …«
Balthasars Blick wurde eindringlich. »Sprich es nicht aus!«, rief er. Doch auch wenn Ana es nicht sagte – Rita wusste es.
»Sie fordern meinen Tod«, sagte sie leise. »Sie verwünschen mich und beleidigen mich und grölen, dass eine wie ich nicht weiterleben darf. Weil ich eine verdammte Rothaut bin, die einen der ihren erschossen hat.«
Balthasar schwieg betreten.
Rita unterdrückte ein Zittern. »Ihr müsst mir etwas versprechen«, erklärte sie mit fester, harter Stimme, und ihr Blick fixierte einen der Eiszapfen. »Ihr müsst Aurelia wie Vater und Mutter sein. Und ihr müsst Emilia beschwören, dass sie aus Deutschland zurückkehrt. Ihr werdet ihre Hilfe nötig haben. Nicht, dass ich viel dazu beigetragen habe, dass die Estancia floriert, und ich ein großer Verlust wäre. Und dennoch … Emilia sollte auch in Aurelias Nähe sein, wenn sie aufwächst. Sie soll von möglichst vielen Menschen umgeben sein, die sie lieben.«
»Sag so etwas nicht!«, begehrte Balthasar auf. »Du wirst hier wieder rauskommen! Und dann werden wir heiraten! Der Mob ist aufgebracht, ja, aber nicht er wird das Urteil sprechen, sondern ein Richter. Und der hat dem Gesetz zu folgen, keinen Vorurteilen.«
Rita schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst es drehen, wie du willst – ich habe Esteban getötet. Und ich habe es gern getan. Ich habe es nicht nur getan, um mich oder Aurelia zu schützen, sondern ich habe es aus Rache getan, und ich bereue es keinen Augenblick lang. Nein, Balthasar«, sie hob abwehrend die Hand, als er ihr widersprechen wollte, »hör auf, dir irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen. Du musst der Wahrheit ins Gesicht sehen, und die Wahrheit ist, dass mein Schicksal besiegelt ist. Ich werde am Galgen enden, und ich möchte, dass ihr mir versprecht, für Aurelia zu sorgen, als wäre sie euer Fleisch und Blut.«
Balthasar rührte sich nicht, aber Ana trat vor. »Ich verspreche es«, erklärte sie. Ihr Tonfall war nüchtern. Aber als sie Ritas Hand nahm und sie drückte, war ihr Griff fest und warm.
»Balthasar!«, drängte Rita, nachdem sie Anas Hand losgelassen hatte. Nach wie vor kam kein Wort über seine Lippen. Erst als sie zu ihm trat und ihm trotz vorhergehender Warnung vor Läusen die Hände auf die Schultern legte, sah er sie an. Tränen glänzten in seinen Augen.
»Ich verspreche es«, murmelte er mit brechender Stimme.
Dann zog er sie an sich und umarmte sie so fest und inniglich, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Ana hatte nicht gedacht, dass es ihr so schwerfallen würde, Ernestas Haus zu betreten. Die Jahre, die sie hier zugebracht hatte, und die wahllos vielen Männerhände, die sie berührt hatten – all das war doch Vergangenheit, in einen dunklen Keller gesperrt und nicht machtvoll genug, um ihre Träume zu stören – wenn sie denn überhaupt träumte, da sie doch kaum schlief. Die Erinnerungen hatten ihr nie zugesetzt; sie hatte nie mit dem gehadert, was sie war und was sie hatte durchstehen müssen, denn das wäre ihr als viel zu anstrengend erschienen, hätte sie viel zu viele Gefühle gekostet. Warum hätte sie sich ihnen hingeben sollen, wenn der Sturmwind Patagoniens sie doch fortwehte?
Aber nun war sie nicht von dessen wilder Weite umgeben, nun war sie in Punta Arenas und in Ernestas Haus, und kein Wind vertrieb den Geruch von Ernestas durchdringendem, süßlichem Parfüm – ein Geruch, der ihr unerwartet zu schaffen machte und ihr das Gefühl gab, sie könne kaum atmen.
Am schlimmsten war es nicht, die vielen Räume zu
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