Jenseits von Uedem
Plötzlich zog sie die Damastserviette vom Tisch auf ihren Schoß und schaufelte hektisch das Essen hinein. Köster schlug ihr auf die Finger. Der Brei klatschte zwischen ihren gespreizten Knien auf den Boden, und sie fing laut an zu weinen. Drei, vier Leute sahen mitleidig zu ihr hin, ihr Mann drehte sich weg.
Auguste Beykirch saß mit ihrem Bruder und Franka Billion an einem Dreiertisch etwas abseits. Sie hatte den Polizisten zugezwinkert und ihnen durch Zeichen zu verstehen gegeben, daß sie gleich käme. Franka Billion warf Toppe ein paarmal einen spöttischen Blick zu. Sie schien seine Gedanken zu lesen. Selbst bei den dreien sah das Essen nach Arbeit aus. Sie waren als erste fertig und kamen sofort raus. Emil hielt Frankas Hand. Sie blieb vor Toppe stehen, ihre Augen, auf derselben Höhe wie seine, blitzten aufmüpfig. »Das mit dem würdevollen Alter ist nur eine gnädige Sage, nicht wahr?«
Toppe gab ihr die Hand. »Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Wie geht es Ihnen?«
»Verglichen womit?« fragte sie, aber sie lachte dabei.
Während sie sich setzten, bemühte sich auch van Appeldorn um Konversation. »Und? Wie ist das Essen hier? Gut?«
»Nahrhaft«, antwortete Emil Wagner. »Hält einen bei Kräften. Geschmacklich, na ja. In unserem Alter schmeckt sowieso fast alles wie Stroh.«
»Jammer nicht«, stieß Auguste ihn an. »Vom Jammern kriegt man bloß Runzeln und Bauchkniepen.«
»Ich jammere doch überhaupt nicht«, trotzte der Bruder.
Franka Billion hatte kein Zweitkonto angelegt. Den größten Teil ihres Vermögens verwaltete sie selbst; nur vom Konto, das sie für die laufenden Kosten hier hatte anlegen müssen, besaß Susanne Holbe eine Vollmacht. »Ich bin ja noch nicht entmündigt, nicht wahr?«
Vorm Fenster schepperte es, zwei Männer schoben einen Sarg in den Leichenwagen. Alle waren still. Emil Wagner schauderte. »Der Nächste, bitte.«
Franka Billion sah auf ihre Hände. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte sie leise. »Das einzige, was ich fürchte, ist, senil zu werden.« Sie schaute auf. »Und deshalb: Wer ist heute mit Aussuchen dran?«
»Ich«, rief Auguste.
Franka seufzte. »Aber bitte nicht schon wieder Schiller.«
»Schiller ist immer noch leichter als dein moderner Bachmannkram«, gab Auguste kiebig zurück.
»Für dich vielleicht.«
Es stellte sich heraus, daß die drei regelmäßig Gedichte auswendig lernten, um ihr Gedächtnis zu trainieren.
»Vielleicht sollte ich auch damit anfangen«, meinte Toppe versonnen.
»Schaden kann das bestimmt nicht«, sagte Auguste. »In Ihrem Beruf müssen die grauen Zellen doch tipptopp funktionieren, oder? So, und jetzt ein Mittagsschläfchen. Hinterher koch' ich uns eine Kanne Kaffee, damit wir wieder in Schwung kommen.«
Franka griff nach Emils Hand. »Ich fühle mich jetzt schon ganz schwungvoll .«
Er sah ihr wissend in die Augen und zog sie mit sich hoch.
»Wir kommen dann um drei zu dir rüber, Güsken.«
»Die haben tatsächlich was miteinander«, staunte van Appeldorn, als sie wieder im Auto saßen.
»Ja«, nickte Toppe, »hab' ich doch erzählt. Warum auch nicht?«
»Ich weiß nicht ...« Van Appeldorn schüttelte sich. »Komm, laß uns nach Uedem fahren und was essen.«
Sie parkten den Wagen im Ortskern. Zwischen dem klobigen katholischen Gotteshaus und der kleinen, weißverputzten protestantischen Kirche lag der Marktplatz. An den Seiten hatte man frische Platanen gepflanzt, untereinander mit Stecken verbunden und festgezurrt, um den Wuchs in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ihre Kugelfrüchte baumelten im Wind wie dicke Pompons.
Sie sahen sich die Brunnenskulptur an: vier Menschen, je zwei sich gegenüber, zogen mit aller Kraft an einem Seil. Wej träkke all an een tauw stand auf einer Tafel.
»Versteh' ich nicht«, murmelte van Appeldorn, »an een Tauw, in verschiedene Richtungen?«
Toppe sah zu den Kirchtürmen hoch. »Ich frag' mich schon die ganze Zeit, wann die Kirche wohl gebaut worden ist«, überlegte er. »Irgendwie hat die ja was vom umwerfenden Charme des Tausendjährigen Reiches, aber auch wieder nicht so ganz. Komisch ...«
»Ach komm, Helmut, du bist doch nicht als Tourist hier. Außerdem hab' ich Hunger.«
»Ja, sofort. Laß mich nur mal eben gucken.« Er ging an der Glasbausteinwand mit der Behindertenrampe entlang, bog um die Ecke, wo es zur Sakristei ging, und fand schließlich, was er gesucht hatte: Erbaut 1890, renoviert 1959/60.
»Merkwürdig«, murmelte er.
Langsam
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