Jerry Cotton - 0581 - Ich und der Krallenmoerder
Kellogs Kopf fuhr herum. Aus unmittelbarer Nähe betrachtet, verlor ihr Gesicht etwas von seinem Reiz; man sah zu deutlich die dicke Schicht des Makeups, das die entschwindende Jugend wettzumachen versuchte. Ich schätzte das Alter der Frau auf fünfunddreißig.
»Guten Morgen«, hauchte sie. Sie war völlig perplex.
Ich strahlte sie an. »Ein wundervoller Tag, nicht wahr?«
Lindy Kellog faßte sich. Ich sah, wie sie unter der Schminkschicht errötete. »Ich kann nicht behaupten, daß er so großartig beginnt«, meinte sie. »Sie haben mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt.«
»Werden Sie niemals auf der Straße angesprochen?«
»Nicht von G-men«, sagte sie. Sie schaute sich beinahe ängstlich um. Man hätte meinen können, sie sei die Tochter eines Landpfarrers und wir flirteten auf einem Dorfanger. »Gehen wir weiter.«
Wir setzten uns in Bewegung. »Hat Ray Ihnen meine Adresse gegeben?« fragte sie.
»Nein. Eigentlich war es ein Zufall, daß wir uns trafen, und doch wiederum nicht. Ich bin dienstlich unterwegs, um ein paar Fragen an Sie zu richten, die Fay Merlin betreffen. Sie ist doch Ihre Freundin, nicht wahr?«
»Unsere Familien verkehren miteinander«, sagte Lindy Kellog. Ich hatte das Gefühl, daß sie die Worte sehr sorgfältig abwog. »Wahrscheinlich wissen Sie, daß Fay unsere Party besuchte und vorzeitig wegging. Wollen Sie mich deshalb sprechen?«
»Unter anderem«, nickte ich. »Können Sie sich erinnern, wann Fay Ihr Haus verließ?«
»Nein«, sagte Lindy Kellog. »Ich war einfach zu beschäftigt.«
»Womit?« fragte ich.
»Lieber Himmel! Ich war die Gastgeberin. Ich mußte mich um hundert Dinge gleichzeitig kümmern. Es gab für mich keinen Grund, Fay im Auge zu behalten.«
»Da bin ich anderer Meinung. Sie war doch immerhin Ihre Konkurrentin.«
»Bei Ray, meinen Sie? Das ist doch längst vorbei! Außerdem war Ray nicht eingeladen.«
»Das kann ich mir denken. Er ist nicht, der Mann, den man auf Partys in der Fifth Avenue herumzeigt.«
»Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich mit Leuten verkehre, die einer anderen sozialen Schicht entstammen? Ich hätte Sie für liberaler gehalten!«
»Über die Liberalität gibt es verschiedene Ansichten«, sagte ich. »Ich bin kein Sittenapostel, aber ich wüßte gern, seit wann Sie Stokeley kennen und was Sie an ihm so hinreißend finden.«
»Das ist wohl meine Privatangelegenheit«, erwiderte sie ärgerlich. »Ray ist jung. Er ist charmant, er hat noch die Kraft und die unverbrauchte Vitalität eines richtigen Mannes. Ich weiß, daß er manchmal grob und brutal ist, und ich weiß, daß es ihm gelegentlich an guten Manieren fehlt, aber von diesen Dingen habe ich in meiner Umgebung mehr als genug. Ray wirkt auf mich geradezu erfrischend.«
»Ich wette, Sie haben ihn durch Fay kennengelernt.«
»Das stimmt.«
»Wann und wo?«
»Ich verstehe die Fragen nicht. Ich halte sie für überflüssig. Was soll das alles? Ich bin nicht die einzige Frau, die aus Verzweiflung über die Leere ihres Daseins einen neuen Inhalt sucht, ein bißchen Wärme und Geborgenheit, vielleicht auch einen Schuß Aufregung und Abenteuer.«
»Wenn ich richtig orientiert bin, verdient Ihr Mann Millionen. Wenn Sie nur wollten, könnten Sie hundert lohnende Aufgaben finden, um Ihr Leben aufzumöbeln.«
»Eine Frau braucht Liebe. Mein Mann hat nur Zeit für seine Firma, für den Erfolg, für die Umsatzkurve. Ist es da ein Wunder, daß ich auszubrechen versuche?«
»Ergeht es Fay Merlin ähnlich?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Hat Fay ähnliche Probleme? Wird sie von ihrem Mann vernachlässigt?«
»Unsinn! Tony vergöttert seine Frau.«
»Weshalb läßt er sie dann nachts allein durch die Straßen ziehen?« fragte ich.
»Ich glaube nicht, daß ihm das Spaß macht, aber er hält nichts davon, seine Frau an die Kette zu legen.«
»Wie steht Fay zu ihrem Mann?«
»Was wollen Sie jetzt von mir hören?« fragte Lindy Kellog spöttisch. »Ein bißchen Klatsch?«
»Daran liegt mir nichts. Ich glaube Sie wohl richtig einzustufen, wenn ich behaupte, daß Sie eine Frau sind, die um ihre Liebe zu kämpfen versteht — mit List und allen anderen weiblichen Mitteln. Habe ich recht?«
»Ist das so ungewöhnlich? Jede Frau verteidigt ihre Vorrechte«, sagte Lindy Kellog.
»Sie sollte dabei aber nicht zu weit gehen«, nickte ich. »Ich rede jetzt nicht davon, daß Sie Ihren Mann hintergehen. Ich spreche von Ihrem Freund Ray Stokeley. Ich kann begreifen, daß Sie seinem
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