Jerry Cotton - 0593 - Der Tote mit zwei Koepfen
verrostete Kette und ein ebenso altes Vorhängeschloß in den Händen. Der kleine Schlüssel steckte im Schloß. Stewitt bückte sich. Bevor Nancy begriff, was er tat, hatte er ihr die Kette um das linke Bein geschlungen und um einen Fuß des schweren eisernen Ofens.
»So«, brummte er zufrieden. »Jetzt kannst du ja den Ofen mitnehmen, wenn du noch einmal Spazierengehen willst.«
Er angelte sich eine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines verschwitzten Hemdes.
Nancy fühlte, daß sie eiskalt wurde. Plötzlich kam es ihr so vor, als bestünde sie eigentlich aus zwei Personen. Eine war da, die Schmerzen erlitt und Furcht hatte, und doch gab es zugleich auch eine andere, die über allem zu stehen schien und eiskalt war und mit berechnendem Verstand nach einem Ausweg suchte.
»Wie lange wollen Sie mich hier festhalten?« fragte sie.
»Keine Ahnung«, gestand er. »Vielleicht eine Woche. Vielleicht ein Jahr. Mal sehen, wie alles läuft…«
Er kam zu ihr heran, die noch immer furchtsam in der Ecke neben dem großen Herd kauerte. Mit der Linken griff er in ihr langes Haar und wickelte es um seine Pranke. Mit der Rechten ließ er die Klinge eines Schnappmessers hervorschießen. Nancy schrie wieder, als er ihr das Haar abschnitt.
»Merk dir eins«, zischte er. »Diesmal bleibt’s bei den Haaren!«
Er stieß sie zurück in die Ecke. Eine Fledermaus strich durch das zerbrochene Fenster und flatterte davon. Bruce Stewitt stapfte schwerfällig die Treppe hinauf und nahm die Petroleumlampe mit. Allein mit ihrer Furcht und ihrem Schmerz und ihrer ganzen Qual blieb Nancy Winters zurück in der Dunkelheit, die der Mond nur langsam wieder mit seinem fahl tröstenden Licht durchdrang.
***
Als der Morgen graute, ratterten Tony Feldwater und Andy McWillock mit dem alten Ford durch die Schlaglöcher der Landstraße. Tony saß am Steuer, während Andy die Knie gegen das Armaturenbrett gestemmt hatte und den Kopf auf der Brust ruhen ließ.
Sie hatten unten, wo die Landstraße von der Bundesstraße abzweigte, Schilder aufgestellt. Die Straße wurde für jeglichen Kraftfahrzeugverkehr gesperrt wegen Bauarbeiten. Jetzt mußten sie noch acht Meilen weiter an der nächsten Einmündung die Gegenschilder aufstellen. Dann konnte es losgehen. Es muß bald die hundertste Baustelle sein, an der ich mitmische, dachte Tony. »Hör mal«, grunzte Andy neben ihm. »Ja? Ich denke, du schläfst noch.«
»Bei dem Geschaukel? Bist du eigentlich sicher, daß wir eine Straße unter den Rädern haben?«
»Ich glaub’ schon. Was wolltest du sagen?«
»Wieso sperren wir die ganze Straße und für jeden Verkehr? Das erlauben sie uns doch sonst nicht!«
»Stimmt. Aber du hast ja gesehen, daß nur ein winziges Nest an dieser Straße liegt. Und von dort aus geht ein Feldweg hinüber zur Bundesstraße, der um diese Zeit gut befahrbar ist. Die Leute aus dem Dorf können den benutzen, und wir kommen zügiger voran, wenn wir die Straße in einem machen können.«
»Mir ist’s bestimmt recht. Und außer diesem Nest liegt nichts an der Straße?«
»Nur noch eine verlassene Farm, von der ein anderer Feldweg hinüber zur Straße führt. Aber da leben keine Menschen mehr. Höchstens Fledermäuse und Ratten. Und die werden wohl ohne Straße auskommen.«
»Junge, was bist du heute morgen wieder witzig. Wie machst du das bloß? Ich brauche nach dem Aufstehen immer noch eine Stunde, bis ich wirklich wach bin.«
»Geh mal zur Marineinfanterie. Da zeigen sie dir; wie du noch vor dem Aufstehen wach sein kannst.«
»Kein Verlangen.«
Tony Feldwater gab ein bißchen mehr Gas. Andy McWillock schob sich den zerknautschten speckigen Arbeitshut aus der Stirn und peilte hinaus in den erwachenden Morgen. Eigentlich ist das die schönste Stunde des Tages, dachte er. Wenn die Vögel schon zwitschern, im Osten die Sonne millimeterweise über den Horizont kriecht, alles noch frisch und nach Tau und satter Erde duftet — wenn man diese Stunde bloß nicht mit dem verdammten Aufstehen erkaufen müßte.
»He!« sagte er und zeigte voraus, wo die Rückleuchten eines alten Dodge im Widerschein ihrer Scheinwerfer aufleuchteten. »Was macht denn der da?«
Sie fuhren langsam an dem Wagen vorbei. Der Wagen war leer.
»Ein Liebespärchen«, sagte Tony schmunzelnd. »Ein Pärchen, das sich in das Wäldchen verkrochen hat.«
»Eijei-eijei«, sagte Andy kopfschüttelnd. »Wenn das meine Großmutter hörte! Die haben so was früher nämlich nie
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