Jesus von Nazareth - Band II
entsühnt. Das „Lamm Gottes“ hatte die Sünde der Welt auf sich genommen und weggetragen. Das durch die Schuld der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zur Welt war erneuert. Versöhnung war geschehen.
So konnte Paulus das Ereignis Jesu Christi, seine neue Botschaft in den Worten zusammenfassen: „Gott hat in Christus den Kosmos mit sich versöhnt, indem er den Menschen nicht mehr ihre Schuld zurechnete und uns das Wort der Versöhnung gewährt hat. An Christi statt sprechen wir als seine Botschafter, und Gott ist es, derdurch uns mahnt. An Christi statt bitten wir: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,19f). Vor allem aus den Paulus-Briefen wissen wir um die scharfen Gegensätze, die es in der werdenden Kirche über die Frage der Weitergeltung des mosaischen Gesetzes auch für Christen gegeben hat. Umso verwunderlicher ist es, dass – wie gesagt – über eines von Anfang an Einigkeit bestand: Die Tempelopfer – die kultische Mitte der Tora – hatten ausgedient. Christus war an ihre Stelle getreten. Der Tempel blieb ein ehrwürdiger Ort des Gebets und der Verkündigung. Seine Opfer jedoch galten für die Christen nicht mehr.
Aber wie sollte man das genauer verstehen? In der neutestamentlichen Literatur gibt es verschiedene Anläufe, um das Kreuz Christi als den neuen Kult, die wahre Sühne und die wahre Reinigung der verschmutzten Welt auszulegen.
Mehrfach sind wir schon zu sprechen gekommen auf den grundlegenden Text in Röm 3,25, in dem Paulus offensichtlich eine Überlieferung der frühesten judenchristlichen Gemeinde von Jerusalem aufgreift und den gekreuzigten Jesus als „Hilasterion“ bezeichnet. Damit ist, wie wir sahen, der Deckel der Bundeslade gemeint, auf den am großen Versöhnungstag beim Versöhnungsopfer das Sühneblut gesprengt wurde. Sagen wir gleich, wie die Christen diesen archaischen Ritus nun verstanden: Nicht die Berührung von Tierblut mit einem heiligen Gerät versöhnt Gott und Mensch. In der Passion Jesu berührt der ganze Schmutz der Welt den unendlich Reinen, die Seele Jesu Christi und damit den Sohn Gottes selbst. Wenn sonst das Unreine durch Berührung das Reine ansteckt und verunreinigt, so ist es hier umgekehrt: Wo dieWelt mit all ihrem Unrecht und ihren Grausamkeiten, die sie verunreinigen, in Berührung tritt mit dem unendlich Reinen – da ist er, der Reine, zugleich der Stärkere. In dieser Berührung wird wirklich der Schmutz der Welt aufgesogen, aufgehoben, umgewandelt im Schmerz der unendlichen Liebe. Weil im Menschen Jesus das unendlich Gute da ist, ist in der Weltgeschichte nun die Gegenkraft zu allem Bösen gegenwärtig und wirksam, ist immer das Gute unendlich größer als die ganze noch so schreckliche Masse des Bösen.
Wenn wir versuchen, dieser Einsicht nachzugehen, finden wir auch die Antwort auf einen Einwand, der sich immer wieder gegen den Sühnegedanken erhebt. Immer wieder wird gesagt: Ist es nicht ein grausamer Gott, der unendliche Sühne verlangt? Ist dies nicht eine Gottes unwürdige Vorstellung? Müssen wir nicht um der Reinheit des Gottesbildes willen auf den Sühnegedanken verzichten? In der Rede von Jesus als „Hilasterion“ wird sichtbar, dass die reale Vergebung, die vom Kreuz her geschieht, sich genau umgekehrt vollzieht. Die Realität des Bösen, des Unrechts, das die Welt entstellt und zugleich das Bild Gottes verschmutzt – diese Realität ist da, durch unsere Schuld. Sie kann nicht einfach ignoriert, sie muss aufgearbeitet werden. Nun wird aber nicht etwa durch einen grausamen Gott Unendliches verlangt. Es ist genau umgekehrt: Gott selbst richtet sich als Ort der Versöhnung auf und nimmt das Leid in seinem Sohn auf sich. Gott selbst schenkt seine unendliche Reinheit in die Welt hinein. Gott selbst „trinkt den Kelch“ alles Schrecklichen aus und stellt so das Recht wieder her durch die Größe seiner Liebe, die im Leid das Dunkle verwandelt.
In der Sache haben das Johannes-Evangelium (besondersmit der Theologie des Hohepriesterlichen Gebets) und der Hebräer-Brief (mit seiner ganzen kreuzestheologischen Interpretation der Kult-Tora) genau diese Gedanken entfaltet und so zugleich sichtbar gemacht, wie sich im Kreuz der innere Sinn des Alten Testaments erfüllt – nicht nur die Kultkritik der Propheten, sondern auch positiv das, was im Kult immer gemeint und gewollt war.
Aus dem großen Reichtum des Hebräer-Briefs möchte ich hier nur einen grundlegenden Text zu bedenken geben. Der Verfasser bezeichnet den Kult
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